Mittelschwaebische Nachrichten
Die Angst vor dem langen Arm der Taliban
Krieg Innerhalb weniger Wochen hat die Terrorgruppe Afghanistan erobert. Zwei Afghanen erzählen von den Sorgen um ihr Heimatland
Ulm/NeuUlm Geschlafen? Nein, geschlafen hat Basir Sediqi nicht. Er hat die Nacht von Sonntag auf Montag damit verbracht, auf sein Handy zu schauen - zunehmend entsetzt darüber, was in seiner Heimat Afghanistan passiert. Er fühlt sich hilflos: „Was kann ich machen?“, fragt er sich. Dass er mittlerweile in Deutschland sicher leben kann, findet er gerade nicht sehr tröstlich. Er hat Angst um seine Familie. Was werden die Taliban mit ihnen machen? Möglicherweise reicht ihr langer Arm sogar bis nach Deutschland. Das fürchten auch andere Afghanen, die mittlerweile in Deutschland leben. Eigentlich ging es Basir Sediqi in den vergangenen Wochen sehr gut, denn er hat etwas geschafft, das ihn stolz mach: Er hat seine Ausbildung zum Hotelfachmann erfolgreich abgeschlossen. Er liebt den Job in einem Blausteiner Hotel, geht gerne mit anderen Menschen um und gilt dort als loyaler, engagierter Mitarbeiter. Jeden Tag fährt er von Ulm aus, wo er in einem winzigen Zimmer lebt, nach Blaustein. Und es stört ihn nicht, wenn er auch mal länger schaffen muss.
Dass er diese Ausbildung überhaupt machen durfte, hat er vielen Menschen zu verdanken, denn eigentlich sollte er im Sommer 2018 aus der Gemeinschaftsunterkunft in Unterelchingen nach Afghanistan abgeschoben werden. Doch er war an diesem Morgen zufällig nicht da. Damit er bleiben konnte, hatte sich der Elchinger Freundeskreis Asyl mächtig ins Zeug gelegt, Behörden sowie Politikerinnen und Politiker angeschrieben. Mit Erfolg, Basir konnte bleiben, machte seine Ausbildung im Hotel Klingenstein und hat jetzt dort einen unbefristeten Arbeitsvertrag.
Doch auf die Arbeit kann er sich nicht konzentrieren, am Sonntag musste er nach vier Stunden wieder nach Hause fahren: Basir Sediqi ist mit den Nerven am Ende: „Was soll ich machen, wenn ich kein Land mehr habe, ich weiß nicht, was mit meiner Familie passiert. Ich mache mir große Sorgen.“Die Taliban haben nach der kampflosen Einnahme von Kabul offenbar angekündigt, sich um alle Bürgerinnen und Bürger zu kümmern, die Verbindungen zum Militär oder der Polizei hatten, die bekanntermaßen den Taliban ablehnend gegenüber standen - so wie Sediqis Familie. Die war einst nach Pakistan geflohen, aber dann doch wieder nach Afghanistan zurückgekehrt. Was kann das für Folgen haben? Möglicherweise keine guten, davon kann Omid Ahmadzai berichten. Auch er lebte einst in Unterelchingen in der AsylbewerberUnterkunft im alten „Adler“-Gebäude. Nach einer allerdings abgebrochenen Ausbildung als IT-Fachmann bei der IHK Ulm arbeitet er nun am Uniklinikum Ulm in der Abteilung für Sterilisation. Im Gespräch mit unserer Redaktion erzählt er davon, wie seine Mutter in Kabul am Montagmorgen Besuch bekam von einem jungen TalibanKrieger. Er suchte nach Omids Vater, der einst Polizist in Kabul war, also in Diensten der Feinde. Doch der war bereits 2017 gestorben. „Und meine Mutter hatte Gott sei Dank schon alle Sachen von ihm weggeräumt.“Doch der ungebetene Besucher kündigte an, man werde irgendwann wiederkommen.
Das klingt nicht gut für Omid Ahmadzai, der seit Jahren in Deutschland lebt und bleiben kann: Er fürchtet, dass die Taliban versuchen, junge geflüchtete Männer zurückzuholen, denn sie haben ein wirkungsvolles Druckmittel: Sie bedrohen die im Land gebliebenen Familien mit dem Tode. Was er in diesem Fall machen würde? Er weiß es nicht. Wie er sagt, so hat Omid Ahmadzai versucht, zumindest seine Mutter nach Pakistan auszufliegen, das Geld, 2000 Euro, habe er bereits gehabt: „Es gab schon ein Flugzeug, aber keinen Piloten“, die Zustände auf dem Flughafen von Kabul waren am Montag chaotisch. Jetzt macht er sich große Sorgen um seine Mutter, seinen Bruder, seine Schwester. In den vergangenen Nächten habe er immer nur zwei bis drei Stunden geschlafen und ansonsten die Nachrichten verfolgt. Und er habe seiner Familie gesagt, sie sollten vorsichtig sein, was sie auf Facebook posten, denn die Taliban würden die sozialen Medien filzen und nach WestKontakten fahnden. Die afghanische Gemeinde im Raum Ulm Omid sagt, er kenne hier rund 200 Menschen - sei in Aufruhr, denn allen gehe es ähnlich wie ihm. Was er nicht verstehen kann: dass die Taliban kampflos in die Hauptstadt marschieren konnten.