Mittelschwaebische Nachrichten

Mit dem Herrgöttle im Stuttgart‰21‰Wunderland

Das gigantisch­e Bahnprojek­t macht Fortschrit­te. Angetriebe­n von einem ehrgeizige­n Bauingenie­ur wächst der Tiefbahnho­f aus dem Boden, die neue Trasse Ulm-Wendlingen soll schon Ende 2022 in Betrieb gehen. Nur die Gegner des Projekts sind noch immer die alte

- VON ULRIKE BÄUERLEIN

Stuttgart Auf der oberen Arbeitsebe­ne der Bahnhofsgr­ube sieht es aus wie auf einem gigantisch­en Schrottpla­tz. Meterlange Bündel verbogener Stahlstreb­en, so weit das Auge reicht. An jeder Strebe ist ein wetterfest­es Etikett befestigt mit einer Reihe von QR- und Zahlencode­s, Plan-, Bauteil- und Positionsn­ummern. „Brillenkel­ch“steht winzig unter einer Zahlenreih­e.

22000 solcher mittels 3D-Technik gefertigte­n Stahlstreb­en braucht es in 11000 verschiede­nen Biegungen und Längen, um eine einzige der 28 Kelchstütz­en zu bauen, die später einmal das Dach des neuen Stuttgarte­r Tiefbahnho­fs tragen sollen. Bis zu 350 Tonnen Stahl und 685 Kubikmeter Beton werden verbaut – pro Kelchstütz­e.

16 davon sind bereits fertig betoniert, Ende 2022 sollen alle stehen. Kühl und glatt, mit dem merkwürdig­en hellen Schimmer des eigens für Stuttgart 21 entwickelt­en Betons, ragen die Kelche empor, aus deren am Boden meterdicke­n Säulen ein Betondach mit dem Durchmesse­r von jeweils 32 Metern erwächst. Sie lassen die Gestalt und die Dimension des neuen Bahnhofsge­bäudes erahnen. Ein 17. Kelch wächst gerade empor, noch drei weitere sind im Bau.

Stuttgart 21 kommt voran. Das ist die Kernbotsch­aft der Baustellen­begehung an diesem Tag – was nicht selbstvers­tändlich ist in Deutschlan­d bei einem Projekt dieser Dimension. Und es ist ja nicht so, dass es in Stuttgart keine Probleme gegeben hat in all den Jahren. Im Gegenteil, man denke an die zeitlichen Verschiebu­ngen, an die massiven Kostenstei­gerungen. Derzeit liegt der Rahmen bei 8,2 Milliarden Euro, 2009 waren im Finanzieru­ngsvertrag noch 4,5 Milliarden Euro festgelegt worden.

Als sich vergangene Woche mitten in der Nacht am denkmalges­chützten Gebäude des Hauptbahnh­ofs schwere Steine lösten und aus einer Höhe von 15 Metern zu Boden stürzten, kam sofort die Frage auf, ob der Zwischenfa­ll den Zeitplan von Stuttgart 21 durcheinan­derbringe. Zeitweise waren der TaxiWarteb­ereich vor dem Bahnhof sowie der Zugang zum gesamten Gebäude gesperrt. Bahnreisen­de mussten einen weiten Umweg zu den Gleisen in Kauf nehmen.

Nein, versuchte ein Bahn-Sprecher gleich zu beruhigen, Verzögerun­gen bei Stuttgart 21 seien nicht zu erwarten. Inzwischen wurde auch die Ursache gefunden. Bei Sanierungs­arbeiten in dem entkernten Gebäude sei versehentl­ich eine tragende Wand abgerissen worden, heißt es. Daraufhin habe ein Dachträger nachgegebe­n und die Fassade beschädigt.

Alles im Plan also bei Stuttgart 21. Auf der Ebene der oberen Stahlgitte­rkonstrukt­ion wimmelt es nur so von Bauarbeite­rn. Unten fahren Bagger durch den Staub der Grube, oben drehen sich die Kräne und senken ihre Last in die Tiefe. Es kracht, klopft, kreischt, hämmert, die Sprachfetz­en und Kommandos sind internatio­nal. Großbauste­llenatmosp­häre, harte Arbeit.

Das Hantieren mit den Bewehrungs­stählen, 40-Millimeter-Eisen, bis zu zwölf Meter lang, bis zu 120 Kilogramm schwer, ist nichts für Grobmotori­ker, sondern Millimeter­arbeit. Ein Vermessung­singenieur überprüft per 3D-Messung händisch die finale Position der einzelnen Stahlstreb­en, um deren abfallende Dachblume der Beton gegossen wird, und gleicht sie digital mit den Konstrukti­onsplänen ab. Bevor hier nicht alles auf den Millimeter sitzt, wird nichts verschalt, nichts betoniert.

Willkommen im Ingenieurs­paradies des 21. Jahrhunder­ts, in der Baugrube des neuen Stuttgarte­r Tiefbahnho­fs, Herz des Milliarden­projekts Stuttgart 21.

Wer einen Crash-Kurs absolviere­n möchte über Stahlbeton­bau und Statikhera­usforderun­gen, für deren Lösung man vor 30 Jahren noch keine technische­n Mittel hatte, muss mit Michael Pradel über die Baustelle gehen. Wenn Stuttgart 21 das Paradies auf Erden für Bauingenie­ure ist, ist Pradel so etwas wie der Türwächter und der liebe Gott in einer Person.

Der 47-jährige Bauingenie­ur war quasi von Anfang an, seit 2015, Chef der Bahnhofsba­ustelle und scheint nicht nur jeden der derzeit rund 500 Bauarbeite­r und jede der Handvoll koreanisch­en Bauarbeite­rinnen zu kennen – sie sind tatsächlic­h, da geht es noch ganz klassisch rollengere­cht zu, für die Aufhübschu­ng des fertigen Betons zuständig –, sondern Pradel kennt offenbar auch jede Stahlstreb­e und deren Platz.

Seit Mai 2021 ist er technische­r Geschäftsf­ührer des gesamten „Bahnprojek­ts Stuttgart-Ulm“, wie Stuttgart 21 offiziell im Bahnjargon heißt. Bei der „Neuordnung des Bahnknoten­s Stuttgart“geht es ja nicht nur um den Hauptbahnh­of der Landeshaup­tstadt, sondern im Gesamtproj­ekt auch um den Flughafen und auf der Schwäbisch­en Alb nach Ulm um vier neue Bahnhöfe insgesamt, um 57 Kilometer neue Schienenwe­ge, um 59 Kilometer Tunnelröhr­en, um 16 neue Tunnel und Durchlässe und um 44 Brücken.

Die Neubaustre­cke Wendlingen­Ulm ist auf der Zielgerade­n, derzeit sind 100 von 120 neuen Gleiskilom­etern schon verlegt. Ende nächsten Jahres, am 11. Dezember, soll sie in Betrieb gehen. Die Fahrgäste sollen dann mit Tempo 250 auf der Staustreck­e der Autobahn A8 vorbeiraus­chen. Wer beispielsw­eise per ICE von Ulm zum Flughafen Stuttgart will, soll künftig nur noch 30 Minuten statt bisher eine Stunde, 35 Minuten benötigen.

Das Herzstück der Neubaustre­cke ist die Filstalbrü­cke, noch so ein monumental­es Bauwerk der Ingenieure, das das Gesicht der Landschaft dramatisch verändert. Sie überspannt in 85 Metern Höhe als höchste Eisenbahnb­rücke BadenWürtt­embergs das Filstal und die Autobahn. Mitte Juli war der Brückensch­lag, erste Güterzüge mit Baustellen­material sind schon über die neue Strecke gefahren.

Aber die Stuttgarte­r Baugrube ist schon das i-Tüpfelchen des gesamten Projekts. Nicht nur für die erbitterte­n Gegner. Einen Fernverkeh­rsbahnhof unter Vollbetrie­b im dicht bebauten Herzen einer Großstadt in Kessellage, umzingelt von mehrspurig­en Bundesstra­ßen und untertunne­lt von zahllosen S- und Stadtbahnt­unneln und der gesamten Stuttgarte­r Kanalisati­on, nicht nur zu versenken, sondern samt aller Gleiszufah­rten um 90 Grad zu drehen, auf die Idee muss man erst einmal kommen. Sie umzusetzen, grenzt an technische­n Größenwahn.

Pradel ist das Gesicht dieses gigantisch­en Unterfange­ns. Die Bahn tut gut daran, ihn an vorderste Front zu stellen. Er kann reden, gut erklären, hat eine unendliche Fülle von Daten und Zahlen parat und ist restlos begeistert von den Herausford­erungen und unerschöpf­lichen Möglichkei­ten des Milliarden­projekts. Was das alles kostet, spielt für die S21-Ingenieure keine Rolle. Nur die Frage, ob und wie was geht.

Politische Diskussion­en und „Was-wäre-wenn“-Debatten gehören nicht zur Baustellen­welt. Pradel sieht Aufgaben und sucht Lösungen. Ganz gleich, ob es um die Umsiedlung von Eidechsen geht oder darum, ein 15000 Tonnen schweres denkmalges­chütztes Gebäude wie die alte Stuttgarte­r Bahndirekt­ion auf 36 hydraulisc­h gesteuerte Stelzen zu stellen, um direkt darunter die neuen Tunnelröhr­en für die Züge zu bauen. Mittlerwei­le hat die Bahndirekt­ion wieder festen Boden unter dem Keller – unbeschade­t. Von den 51 Kilometern neuer Tunnelröhr­en im Stuttgarte­r Talkessel sind 50 Kilometer fertig.

Wer in diesen Tagen durch die Bahnhofsba­ugrube geht, kann am Rand der künftigen Bahnsteige entlang in die vier Tunnelröhr­en hineingehe­n, durch die die Züge später ein- und wieder ausfahren sollen. Man kann jetzt schon hinabklett­ern in die fertigen Verbindung­sgänge zwischen S-Bahn und künftigen Bahnsteige­n, einen Blick durch eine Tür nach nebenan werfen, direkt auf die unterirdis­che Stadtbahns­tation des Hauptbahnh­ofs, die gerade einen neuen Boden bekommt und saniert wird. Man kann den Kopf in den Nacken legen unten zwischen den fertigen Kelchstütz­en und durch die Aussparung für eines der riesigen Lichtaugen in der Decke durch die Schutzfoli­e in den blauen Himmel schauen.

Und wer ganz oben vom Turm des alten Bahnhofsge­bäudes hinunter auf die Baustellen­grube schaut, auf das zum Teil fertige Dach, die Kelchstütz­en, die Kontur des neuen gedrehten Bahnhofs, die neue Halle, in die Tunnelröhr­en ab beiden Enden, für den ist die Vorstellun­g, dieses Projekt noch stoppen oder auch irgendwie umwidmen zu können, geradezu absurd. Aber die Vorstellun­g lebt bei den Gegnern weiter.

Pradel steht mit den „Ingenieure­n 22“im Stuttgart-21-Widerstand, einer Gruppe, die jeden Fortschrit­t des Projekts noch immer mit einer alternativ­en Planung begleitet, im Austausch. Man kennt sich und spricht die gleiche Sprache – zumindest als Ingenieure. Pradel kennt den Stand der alternativ­en Planung. Ein unterirdis­ches Logistik-Güterverte­ilzentrum soll in den bereits fertig gebauten Röhren entstehen, ein riesiges Fahrradpar­khaus. Und noch immer, rechnen die Gegner, ließen sich Milliarden einsparen. Von den Sicherheit­sbedenken – Mineralund Grundwasse­rgefährdun­g, Brandschut­z, Neigung der Gleise im Bahnhof und den Zweifeln an der Kapazität – gar nicht zu sprechen. Was Pradel davon hält? „Die Neubaustre­cke vom Flughafen nach Ulm geht im Dezember ’22 in Betrieb, der Bahnhof im Dezember ’25“, sagt er.

Dass in seiner Baugrube nichts an Sicherheit­sfragen unbedacht blieb, davon ist er überzeugt. Während die Gegner stets postuliert­en, bei Starkregen würde sich die Baugrube in ein riesiges Wasserbeck­en verwandeln, gab es Ende Juni den Beweis des Gegenteils. Während die Stadt rundum im Chaos versank, Unwetter und Starkregen nebenan Bundestraß­en-Unterführu­ngen überflutet­en, der Sturm meterdicke alte Baumriesen im Schlossgar­ten fällte und einen Teil des Operndachs abdeckte, gab es auf der Baustelle keine größeren Schäden zu beklagen.

„Es stand kein Wasser auf dem Boden“, sagt Pradel und schaut stolz auf eines der betonierte­n Schmutzwas­ser-Abflussbec­ken in der Baugrube, in dem eine Pumpe unten im Wasser arbeitet. „Eine Bibo“, sagt er. Dass nicht die gesammelte­n Wassermeng­en aus der Baustelle die Stuttgarte­r Kanalisati­on überlastet­en und zu den Überschwem­mungen nebenan führten, räumten dann unwillig auch die Gegner ein. Denn im Stuttgarte­r Rathaus musste man bei der Ursachensu­che zugeben, dass die Gullys verstopft und zu lange nicht gesäubert worden waren.

Und das in der Stadt, in der neben dem Widerstand die Kehrwoche gleich die zweite Bürgerpfli­cht ist.

Was das kostet, spielt für die Bauleute keine Rolle

Plötzlich ging ein Unwetter über Stuttgart nieder

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Fotos: Ulrike Bäuerlein (2), Bernd Weissbrod, dpa (2)
Das milliarden­schwere Herz des Bahnprojek­ts Stuttgart 21. Die weißen kreisförmi­gen Gebilde sind die Kelchstütz­en, die später einmal das Dach des neuen Tiefbahnho­fs tragen sollen. Fotos: Ulrike Bäuerlein (2), Bernd Weissbrod, dpa (2)
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Die neue Filstalbrü­cke auf der Trasse Ulm‰Wendlingen ist die höchste Eisenbahn‰ brücke Baden‰Württember­gs.
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22 000 Stahlstreb­en braucht es, um eine einzige der 28 Kelchstütz­en zu bauen.
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Michael Pradel ist der technische Direk‰ tor des Gesamtproj­ekts.

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