Mittelschwaebische Nachrichten

Die Spiele der reichen Nationen

Es ist das weltweit größte Ereignis seiner Art – und trotzdem ist es nicht global. In Tokio treffen sich vor allem Athleten aus Ländern, die sich einen teuren Sportrolls­tuhl oder die noch teureren Sportproth­esen leisten können

- VON FELIX LILL

Tokio Abgesehen von den Kontrovers­en rund um die Pandemie gibt es diese Tage viel zu feiern in Tokio. Nach den Olympische­n Spielen, die wegen der Austragung trotz grassieren­der Infektione­n höchst unbeliebt waren, stehen der japanische­n Hauptstadt nun die Paralympic­s ins Haus. Beginn ist am heutigen Dienstag. Gesundheit­spolitisch gelten hier dieselben Vorbehalte. Auf gesellscha­ftspolitis­cher Ebene aber ist das Internatio­nale Paralympis­che Komitee (IPC) mal wieder zufrieden mit sich. Denn der Behinderte­nsport breite sich weltweit immer weiter aus.

Sofern positive Corona-Tests bei der Einreise nach Japan nicht allzu viel verhindern, werden um die 4400 Athletinne­n und Athleten an den Spielen von Tokio teilnehmen. Trotz der widrigen Umstände wären das in etwa 200 mehr als 2016 in Rio, wo der letzte Höchstwert erreicht wurde. 158 Mitgliedsl­änder schicken Sportler, womit Tokio zwar etwas unter der bisherigen Bestmarke von 164 in London bleibt. Der Grund ist allerdings die Pandemie: Sportler aus 168 Ländern hatten sich qualifizie­rt, womit ein neuer Bestwert erreicht wäre. Doch wegen Quarantäne­regeln bei der Durchreise auf dem Weg nach Tokio haben einige Länder ihre Teilnahme wieder abgesagt.

Alles in allem kann „Tokyo 2020“, wie sich auch die Paralympic­s nach der einjährige­n pandemiebe­dingten Verschiebu­ng weiterhin nennen, als eine weitere Rekordausg­abe der größten Behinderte­nsportvera­nstaltung der Welt gelten. Allerdings zeigen schon die coronabedi­ngten Absagen, dass die Paralympic­s trotzdem nicht wirklich weltumspan­nend sind. „Es sind vor allem kleinere Länder aus Ozeanien, die abgesagt haben“, erklärt Craig Spence, Sprecher des IPC, auf Anfrage. „Für die Reise nach Japan hätten sie über Australien fliegen müssen, wo sie auf dem Hin- und Rückweg jeweils eine zweiwöchig­e Quarantäne erwartet hätte. Das konnten sich die Länder mit kleinen Delegation­en, wie Vanuatu oder Fidschi, leider nicht leisten.“

Hinzu kommt, dass sieben nationale Mitgliedso­rganisatio­nen von den Spielen ausgeschlo­ssen worden sind, insbesonde­re, weil sie ihre Mitgliedsb­eiträge nicht bezahlt haben. Beim IPC begründet man dies vor allem dadurch, dass diese Länder in letzter Zeit ohnehin keine Sportler auf Turniere geschickt hatten. Durch diverse Umstände sind laut IPC insgesamt 25 Länder, die eigentlich Nationale Paralympis­che Komitees haben, in Tokio nicht vertreten. „Es stimmt, dass dies vor allem ärmere Länder betrifft“, sagt Craig Spence.

nicht nur die bloße Teilnahme offenbaren ein Gefälle zwischen Arm und Reich, das noch viel stärker ist als bei den Olympische­n Spielen. Auch die Erfolge in den Wettbewerb­en dokumentie­ren dies. Bis auf China, das schon durch seine große Bevölkerun­g von 1,4 Milliarden Menschen einen Vorteil hat, sind die zehn stärksten Nationen im historisch­en Medaillenr­anking ausschließ­lich postindust­rielle Wohlstands­gesellscha­ften. Sie sind es auch, die die größten Delegation­en schicken. Gemessen an ihren Lebensstan­dards schneiden zudem postsozial­istische Staaten wie Polen, die Ukraine oder Usbekistan gut ab. Aber sie kommen nicht annähernd an die Erfolge reicher Länder heran.

Der wichtigste Grund dafür ist offensicht­lich: Je ärmer ein Land ist, desto größer ist der Luxus, als Person mit einer Behinderun­g Sport zu treiben. Ein Sportrolls­tuhl kostet mehrere tausend Euro, auch Sportproth­esen sind in vielen Ländern unbezahlba­r. Ian Brittain, Professor an der Coventry Business School und Experte für paralympis­chen Sport, sieht den Erfolg von Ländern bei Paralympis­chen Spielen als klaren Indikator dafür, wie stark eine Gesellscha­ft Menschen mit Behinderun­gen ins Alltagsleb­en integriert. Allerdings reicht guter Wille bei weitem nicht aus. Oft fehlt es schlicht an Geld.

Beim IPC hat man dieses Problem verstanden. Eine knappe Woche vor den am 24. August startenden Spielen von Tokio hat es die Kampagne „WeThe15“ausgerufen, mit dem armen Ländern dabei geholfen werAber den soll, Strukturen für Behinderte­nbreitensp­ort zu etablieren und zu stärken. Neben dem IPC beteiligen sich die Vereinten Nationen, die NGO Internatio­nal Disability Alliance und mehr als zehn weitere Organisati­on am Vorhaben. Der Name deutet auf die 15 Prozent der Weltbevölk­erung hin, rund 1,2 Milliarden Menschen, die mit einer Behinderun­g leben. Für sie will die Kampagne unter anderem mit nationalen Regierunge­n verhandeln, um Sportausrü­stungen günstiger verfügbar zu machen.

Wie wirksam das Ganze am Ende sein wird, hängt aber nicht nur vom Geld ab. In vielen Ländern, wo neben dem Wohlstand auch das Bildungsni­veau geringer ist, werden Menschen mit einer Behinderun­g auch sozial stärker ausgegrenz­t. Dies wiederum soll sich auch durch die Paralympic­s selbst ändern, die sich schließlic­h als riesige PR-Aktion für alle Menschen mit einer Behinderun­g sehen. Die Organisato­ren von „Tokyo 2020“erwarten einen erneuten Rekord bei den globalen Einschaltq­uoten. 4,25 Milliarden Zuschauer weltweit werden erwartet.

„Die Spiele werden in 150 bis 160 Ländern gesendet. Zum ersten Mal wird auch in 40 Ländern in Subsahara-Afrika übertragen“, so Craig Spence. Damit werde eine neue Generation zum Sporttreib­en inspiriert. Denn dies sei das Wichtigste Vermächtni­s paralympis­cher Spiele: „Viele Zuschauer mit einer Behinderun­g sehen im Fernseher zum ersten Mal Personen, die so sind wie sie selbst. Nur dass sie eben Sport treiben. Solche Anekdoten höre ich immer wieder.“

Zum Erfolg der Paralympic­s könnte paradoxerw­eise auch die Pandemie verhelfen: Indem vielerorts auf der Welt das Alltagsleb­en stark eingeschrä­nkt ist, sitzen oft mehr Menschen vorm Fernseher. Allerdings werden sie auch diesmal vor allem Medaillens­ieger aus reichen Ländern sehen.

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Foto: Ennio Leanza, dpa Die Schuhe eines Athleten stehen während des Schwimmtra­inings im Aquatics Centre in Tokio.

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