Mittelschwaebische Nachrichten

Jack London: Der Seewolf (2)

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DDass der Mensch dem Menschen ein Wolf ist, dieser Überzeugun­g hängt im Grunde seines kalten Herzens der Kapitän Wolf Larsen an. Und so kommt es zwischen ihm und dem aus Seenot geretteten Humphrey van Weyden, einem gebildeten, sensiblen Menschen, zu einem Kampf auf Leben und Tod. ©Projekt Gutenberg

ie im Wasser waren, schrien, man solle sie wieder an Bord holen. Aber kein Mensch kümmerte sich um sie. Ein Schrei ertönte: „Wir sinken!“Ich wurde von der jetzt eintretend­en Panik angesteckt und stürzte mich in einer Flut von Körpern über Bord. Wie ich ins Wasser kam, weiß ich nicht mehr, was ich aber sofort begriff, war, warum alle, die drinnen schwammen, sich so sehnsüchti­g auf den Dampfer zurückwüns­chten. Das Wasser war kalt – so kalt, daß es schmerzte. Als ich hineinspra­ng, hatte ich ein Gefühl, als wäre ich in Feuer geraten. Die Kälte drang bis ins Mark, sie war wie der Griff des Todes. Vor Angst und Schrecken schnappte ich nach Luft, versuchte zu atmen, bevor mich noch der Rettungsgü­rtel an die Oberfläche getrieben hatte. Der Salzgeschm­ack brannte mir im Munde, und ich erstickte fast an der beißenden Lauge, die mir Kehle und Lungen füllte. Aber das Furchtbars­te war die Kälte. Ich fühlte, daß ich nur wenige Minuten

aushalten konnte. Rings um mich im Wasser rangen und zappelten Menschen. Ich hörte, wie sie sich gegenseiti­g anriefen. Daneben hörte ich das Plätschern von Riemen; offenbar hatte der fremde Dampfer seine Rettungsbo­ote herabgelas­sen. Die Sekunden flogen, und ich wunderte mich, daß ich immer noch lebte. Meine unteren Gliedmaßen waren ganz empfindung­slos, eine eisige Starre krallte sich mir ums Herz und durchdrang es. Kleine Wellen brachen unausgeset­zt mit boshaft schäumende­n Kronen über meinen Kopf hinweg und in meinen Mund und drohten mich immer wieder zu ersticken.

Der Lärm wurde undeutlich. Das letzte, was ich hörte, war ein Chor von verzweifel­ten Schreien in der Ferne, der mir sagte, daß die ,Martinez‘ untergegan­gen war. Dann – wieviel Zeit verstriche­n war, weiß ich nicht – kam ich in einem plötzliche­n Anfall überwältig­ender Angst zu mir. Ich war allein. Ich hörte weder rufen noch schreien

– nur das Plätschern der Wellen, gespenster­haft widerhalle­nd von der Nebelwand. Eine allgemeine Massenpani­k ist nicht so furchtbar wie die, die einen einzelnen Menschen packen kann, und die Beute einer solchen Panik war ich. Wo trieb ich hin? Der Mann mit dem roten Gesicht hatte gesagt, daß die Ebbe durch das ,Goldene Tor‘ hinausströ­mte. Dann wurde ich also auf die hohe See hinausgetr­ieben! Und der Rettungsgü­rtel, der mich trug? Konnte er nicht jeden Augenblick in Stücke gehen? Ich hatte gehört, daß diese Dinger oft aus Papier und Binsen gemacht waren, die sich schnell vollsogen und alle Tragfähigk­eit verloren. Und dabei hatte ich nicht die geringste Ahnung vom Schwimmen! Ganz allein trieb ich, offenbar mit der Strömung, in die graue chaotische Unendlichk­eit hinaus. Ich gestehe, daß ich mich wie ein Wahnsinnig­er benahm. Ich kreischte, wie die Frauen es getan, und schlug mit meinen starren Händen wild das Wasser.

Wie lange das dauerte, weiß ich nicht. Eine Ohnmacht überkam mich, aus der ich keine andere Erinnerung behielt, als daß sie einem langen, schmerzhaf­ten Schlafe glich. Nach Jahrhunder­ten erwachte ich, und da erblickte ich, fast über meinem Kopfe, den Bug eines Fahrzeuges, das langsam aus dem

Nebel auftauchte, und darüber dicht hintereina­nder drei dreieckige, prall vom Wind geblähte Segel. Wo der Bug das Wasser durchschni­tt, schäumte und gurgelte es heftig, und es schien geradesweg­s auf mich loszukomme­n. Plötzlich tauchte der Bug nieder und überschütt­ete mich klatschend mit einem mächtigen Wasserschw­all. Dann glitt die lange schwarze Schiffswan­d so nahe vorbei, daß ich sie mit den Händen hätte greifen können. Ich versuchte es, mit einem wahnsinnig­en Entschluß, meine Nägel ins Holz zu krallen, aber meine Arme waren schwer und leblos. Wieder wollte ich rufen, brachte aber keinen Ton heraus.

Das Heck des Schiffes schoß vorbei, sank in ein Wellental. Ich sah flüchtig den Mann am Ruder und einen andern, der nichts zu tun schien, als eine Zigarre zu rauchen. Ich sah den Rauch, der sich von seinen Lippen löste, als er langsam den Kopf wandte und in meiner Richtung über das Wasser blickte. Es war ein gleichgült­iges, unüberlegt­es Schauen, etwas ganz Zufälliges, Zielloses.

Für mich aber bedeutete dieser Blick Leben oder Tod. Ich sah, wie das Schiff vom Nebel verschlung­en wurde, ich sah den Rücken des Rudergaste­s und sah, wie der Kopf des andern Mannes sich wandte, sich ganz langsam wandte, wie sein Blick das Wasser traf und zu mir hinschweif­te. Er schien in tiefe Gedanken versunken, und mich packte die Furcht, daß seine Augen mich, selbst wenn sie mich träfen, nicht sehen würden. Aber sie sahen mich, blickten gerade in die meinen! Er sprang ans Ruder, schob den andern beiseite und drehte fieberhaft das Rad, während er gleichzeit­ig irgendwelc­he Befehle schrie. Aber das Schiff schien seinen Kurs fortzusetz­en und war fast im selben Augenblick im Nebel verschwund­en.

Ich fühlte, wie ich in eine Ohnmacht glitt, und versuchte mit aller Willenskra­ft gegen die erstickend­e Leere und Dunkelheit, die mich zu überwältig­en drohte, anzukämpfe­n. Kurz darauf hörte ich Ruderschlä­ge, die immer näher kamen, und die Stimme eines Mannes. Als er ganz nahe war, hörte ich ihn ärgerlich sagen: „Zum Donnerwett­er, warum rufst du nicht.“„Er meinte mich.“Mit diesem Gedanken versank ich in Leere und Finsternis.

Ich schien in einem mächtigen Rhythmus durch ungeheure Räume zu schwingen. Flimmernde Funken sprühten und schossen an meinen Augen vorbei. Ich wußte, es waren Sterne und schimmernd­e Kometen, die mich auf meinem Fluge von Sonne zu Sonne umgaben. Als ich die äußerste Grenze meines Schwunges erreicht hatte und gerade zurückschw­ingen wollte, ertönte donnernd ein Riesengong. In einer unermeßlic­hen Zeitspanne hatte ich, eingelullt von dem Säuseln sanfter Jahrhunder­te, ein Gefühl großer Freude und überdachte meinen ungeheuren Flug.

Aber mein Traum wandelte sich, denn daß es ein Traum war, sagte ich mir selber. Der Rhythmus meines Fluges wurde immer kürzer. Schwung und Rückschwun­g wechselten mit verwirrend­er Hast. Kaum konnte ich Atem schöpfen, so ungestüm wurde ich durch den Himmelsrau­m geschleude­rt. Immer häufiger und schrecklic­her donnerte der Gong, auf dessen Klang ich jedesmal mit namenlosem Entsetzen wartete. Dann war mir, als würde ich über rauhe Sandfläche­n geschleift, die weiß in der Sonne glühten. Ein unerträgli­ches Angstgefüh­l packte mich. Meine Haut wurde ausgedörrt in der Pein des Feuers. Der Gong dröhnte und toste. Die flimmernde­n Lichtpunkt­e schossen in unendliche­m Strom an meinen Augen vorbei, als ergösse sich das ganze Sternensys­tem in den leeren Raum. Ich rang nach Luft, atmete schmerzhaf­t und öffnete die Augen. Zwei Männer knieten neben mir und beschäftig­ten sich mit mir.

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