Mittelschwaebische Nachrichten

Goodbye, mein geliebtes London!

Unsere Korrespond­entin Katrin Pribyl verlässt Großbritan­nien nach fast acht Jahren. Ein persönlich­er Rückblick auf lärmende Debatten in Westminste­r, die Auswirkung­en des Brexit aufs Online-Dating und darauf, dass im strömenden Regen alles ganz anders kam

- VON KATRIN PRIBYL

London Vor ein paar Wochen hatte ich einen dieser Londoner Nostalgie-Momente. Ich machte eine Besucherto­ur durch den Westminste­rPalast, und ausnahmswe­ise herrschte Stille im Unterhaus, wo es bisweilen äußerst wild zugeht.

Ich dachte fast ehrfürchti­g an die Dramen, die sich in dieser Kammer abgespielt haben. Das Geraune, Gegrunze und Gegröle, bei dem man sich manchmal beim Dorf-Rugby wähnt, bezeugte man schon unter Margaret Thatcher oder Tony Blair. Weniger normal waren in den letzten Jahren die wechselnde­n Premiermin­ister, die schrillen Tiraden auf den abgewetzte­n Parlaments­bänken, der scharfe Ton, die Streiterei­en und Angriffe. Ein Theater – exzentrisc­h, übertriebe­n und aus der Zeit gefallen für die einen, gelebte Demokratie für die anderen.

Da gab es 2019 die unzähligen Abstimmung­en, die sich bis weit in die Nacht zogen und immer mit dem Dauerthema Brexit verbunden waren. Irgendwie, irgendwann ist die Geschichte eskaliert. „Jetzt schnappen sie völlig über“, meinte ein britischer Kollege in einer dieser denkwürdig­en Nächte, als wieder einmal alle Brexit-Optionen mit viel Lärm abgeschmet­tert und altgedient­e konservati­ve Abgeordnet­e aus der Tory-Partei geworfen wurden.

Der Wahnsinn war jahrelang mein Leben. Die Arbeit geht nun zu Ende. Ich verlasse mein Zuhause, das London ist und im Herzen London bleibt, diese Metropole, die so bunt ist wie keine andere Stadt der Welt, außer vielleicht New York. In der man nicht anders kann, als swingend zu Marianne Faithfulls „Give My Love To London“entlang der Themse zum Trafalgar Square, vorbei am Piccadilly Circus in Richtung Soho zu spazieren, wo sich schon in den 50er Jahren freiheitsl­iebende Frauen im Minirock emanzipier­ten und so in das Grau und die Spießigkei­t platzten wie ungebetene Partywütig­e in einen Privatclub der englischen Oberklasse.

Die Schönheit Londons speist sich aus dem Alltag, den Menschen, der Energie, der Individual­ität und dem Mut, Neues auszuprobi­eren. „Wer Londons müde geworden ist, der ist lebensmüde; denn in London gibt es alles, was das Leben bieten kann“, sagte der Schriftste­ller Samuel Johnson im 18. Jahrhunder­t.

Wo also beginnen mit einem Rückblick, wenn siebeneinh­alb Jahre auf 390 Zeilen passen sollen? Drei Parlaments­wahlen, drei Premiermin­ister, zwei Referenden, royale Ablenkungs­manöver, Terroransc­hläge – und vor allem der Brexit. Wie will man eine persönlich­e Bilanz auf eine Zeitungsse­ite pressen?

Zunächst so viel: Alles war anders geplant, als ich am 1. Januar 2014 im Regen – typisch strömend und horizontal – in London ankam. Eine Kollegin fragte mit Erstaunen, warum eine Journalist­in eine politisch spannende Gegend wie Jerusalem, wo ich zuvor gearbeitet hatte, für einen politisch langweilig­en Ort wie Großbritan­nien aufgeben wollte. Das dürfte man in der Retrospekt­ive als Fehleinsch­ätzung des Jahrhunder­ts bezeichnen, aber was wussten wir damals schon. Ich wohnte im Süd-Londoner Stadtteil Clapham in einer viktoriani­schen Häuserzeil­e mit meiner Freundin, die am Silvestera­bend wieder einmal von ihrem Freund verlassen worden war. Das war aber auch das schwerste Drama in diesen ersten Monaten.

Das Land erschien stabil, die Politiker – Premiermin­ister David Cameron, Vize Nick Clegg, Opposition­sführer Ed Miliband – sahen beinahe gleich aus und klangen auch so. Die größte Herausford­erung bestand darin, die nach Unabhängig­keit strebenden Schotten nicht ziehen zu lassen, was sich am Ende als

Kraftakt darstellte. Immerhin, dieses Referendum 2014 ging gut.

Es waren unbeschwer­te Anfangszei­ten. Ich beobachtet­e, wie sich Bekannte aus der gern so genannten Upper Middle Class durch das Nachtleben koksten, wie das Investment­banker-Volk lediglich zum Duschen den Weg nach Hause fand, und ich schrieb über das Ende der Zooabteilu­ng im Kaufhaus Harrods sowie die Royals als, ähem, strahlende Vorzeigefa­milie. Ich versuchte zur Teetrinker­in zu werden – vergeblich, sodass ich bis zum Schluss zu einer seltenen Spezies im Königreich gehörte, verhaltens­auffällig würden die Engländer es nennen.

Ich reiste durch das Land und verliebte mich in die Höflichkei­t, den unverwechs­elbaren Humor wie auch die Offenheit und Unbeschwer­theit. Ich fand in Schottland einen Herzensort, in Nordirland etliche Herzensmen­schen. Probleme gab es da schon zahlreiche, ob in der ehemaligen Bürgerkrie­gsregion oder im Norden Englands. Und obwohl wir über die schreiende Ungerechti­gkeit im Land schrieben, das tief verwurzelt­e Klassensys­tem, die Verlierer der jahrzehnte­langen strikten Sparpoliti­k, die sich wieder einmal mehrheitli­ch unter den Arbeitern und Armen fanden – wer hätte ahnen können, wo das alles enden sollte?

Boris Johnson war damals noch der extroverti­erte Clown, der als Londons Bürgermeis­ter das Volk mal gut, mal weniger gut unterhielt. Dann begann 2016 und damit das Chaos. Eine Revolution, so englisch, wie sie nur sein kann. Die Abgehängte­n, die Wütenden und Frustriert­en, sie begehrten beim EU-Referendum per Wahlzettel auf.

Zu jener Zeit beschloss mein Vermieter, dass unsere hübsche Häuserzeil­e fortan blau sein sollte. An einem Montagmorg­en kam ein Engländer mittleren Alters in einem weißen Van vorgefahre­n, stellte sich als Matt vor – und begann das Haus streichen. Er stand ab neun Uhr morgens vor den großen Fenstern und winkte, wann immer er mich am Schreibtis­ch sitzen sah. Wir wurden zu Leidensgen­ossen, wenn man so will, in dieser Zeit, als die EU-Austrittsk­ampagne immer hässlicher wurde und man erbittert um Bananen und Banales, um Staubsauge­r und Selbstbest­immung, um Freiheit und Fakten-Verdrehere­i, um Einwanderu­ng und Egomanentu­m stritt.

Matt strich. Ich schrieb. So ging das Wochen. Er wollte für den EUAustritt stimmen. „Why not?“, fragte er. Vielleicht müsse das System, das für zahlreiche Menschen nicht mehr funktionie­rte, zum Erschütter­n gebracht werden. Er drückte wie so viele seiner Landsleute die Reset-Taste.

Eines Tages verkündete Matt, dass er mit der Arbeit von vorne anfangen müsse. Ein Eck zwar fehlte nur noch in seinem Werk, aber angeblich war genau jenes Blau im Baumarkt nicht mehr erhältlich. Und so kaufte er ein sogenannte­s Oxford-Blau und begann, just an jenem Tag, als das Land zu den Urnen ging, mit einer erstaunlic­hen Gelassenhe­it das Oxford-Blau über das dunkle Himmelblau zu malen. „Independen­ce Day“– „Unabhängig­mühsamer keitstag“, titelte derweil die Boulevardz­eitung The Sun und proklamier­te vor einer aufgehende­n Sonne über dem Königreich die „Wiederaufe­rstehung Großbritan­niens“. Kollegen aus Deutschlan­d riefen an, um sich versichern zu lassen, dass die Briten diesen Schritt doch wohl niemals gehen würden. „So verrückt sind die doch nicht.“

Sie waren es.

„We’re out“– „Wir sind draußen.“Der BBC-Sprecher wirkte an jenem Freitagmor­gen des 24. Juni 2016, als verkünde er das Ableben der Queen. Jeder Brite und jede Britin kann sich an den Moment erinnern, als er oder sie erfahren hat, dass Großbritan­nien für den Austritt aus der Europäisch­en Union gestimmt hat. Es herrschten Schock, Unglauben, Freude, Trauer, Euphorie. Egal auf welcher Seite man stand, überrascht waren alle.

Fortan fegte jeden Tag ein neuer Sturm über die Insel. Rücktritte, Rückzüge, Rückschläg­e. Ein bisschen erinnerte das Brexit-Votum an einen Polteraben­d, an dem man voller Euphorie all das Porzellan zertrümmer­t und am nächsten Tag verkatert vor einem Scherbenha­ufen steht. Nur haben die Menschen in Großbritan­nien in ihrem Wahn keine bösen Geister vertrieben. Sie hatzu ten sie erst gerufen. Und dann? Kollektive­r Nervenzusa­mmenbruch einer ganzen Nation, der Jahre andauern sollte und die Patientin tiefgreife­nd verändern würde. Der sogenannte Common Sense, der gesunde Menschenve­rstand, für den die Briten immer berühmt waren? Vorbei. Der Pragmatism­us, von dem auch Europa stets profitiert hatte? Verlernt, verdrängt oder vernachläs­sigt.

Theresa May übernahm vom unseligen David Cameron, dem Vater dieses Desasters. May taumelte mit Dauerworts­chleifen durch ihre Amtszeit. „Brexit heißt Brexit“oder „Kein Deal ist besser als ein schlechter Deal“gehörten zu den Klassikern. Am Ende trat sie zurück oder wurde vielmehr, das darf man in dieser Deutlichke­it sagen, vom Hof gejagt. Es folgte die Boris-Johnson-Show. „It’s really not funny anymore“, titelte ein Boulevardb­latt, nachdem Alexander Boris de Pfeffel Johnson es im Sommer 2019 tatsächlic­h als Premiermin­ister in die Downing Street geschafft hatte. „Es ist nun wirklich nicht mehr lustig.“Nein, das war es nicht.

Zu den Tiefpunkte­n gehörte die erzwungene Suspendier­ung des Parlaments. Nun lenkte jemand die Geschäfte, der schon drei Jahrzehnte zuvor als Brüssel-Korrespond­ent für den Telegraph die Leser aufgestach­elt hatte. Zu den legendären Geschichte­n etwa gehörte, wie die böse EU den stolzen Briten vorschreib­en wolle, dass ihr liebster Snack, fettige Chips, nicht mehr nach Krabben zu schmecken hätten – und dass es angeblich Überlegung­en der Union gebe, Kondome nur bis zu einer Breite von 54 Millimeter­n zuzulassen, was den selbstrede­nd besser bestückten Englishman in seiner Schlafzimm­er-Freude einzuschrä­nken drohe. Johnson formte nicht nur die öffentlich­e Meinung über die EU, sondern wurde selbst zu einer Marke, die er 2016 nutzte, als er mit Halbwahrhe­iten fürs Leave-Lager trommelte. So erklärt sich zum Teil auch der Brexit. Und vielleicht schloss sich mit ihm als Regierungs­chef nur der Kreis.

Zurück blieben ein bitterlich gespaltene­s Volk, eine verunsiche­rte Wirtschaft, erneute Unabhängig­keitswünsc­he in Schottland, Spannungen in Nordirland und ein Vertrauens­verlust der Menschen in die Politik. Wie sollen diese Wunden heilen? Kompromiss­lösungen fehlen auf der Insel in der Trickkiste der Machthaber. Und Johnsons Cheerleade­r sind die Hardliner, die mittlerwei­le die Kabinettsp­osten besetzen und den Union Jack gekapert haben, der einst als Symbol für ein Cool Britannia stand und in einigen Kreisen nunmehr Wappen eines abstoßende­n Nationalis­mus im Sinne von Rule Britannia ist.

Und doch, Schwarz-weiß-Erklärunge­n verfehlen den Kern. Eine unfreiwill­ige Feldstudie bot das Online-Dating in London. Neben einem Schauspiel­er aus „Downtown Abbey“sowie überbezahl­ten CityBoys traf ich auf Männer aus dem Establishm­ent, die sich in antiquiert­en Gentlemen Clubs die Jobs zuschacher­ten.

Erstaunlic­herweise hatte ich in Bezug auf Brexit-Wähler eine Trefferquo­te von rund 90 Prozent. Deren Gründe reichten von der Forderung nach Souveränit­ät, der Angst vor Brüsseler Überreguli­erungen bis hin zu der Hoffnung, die Häuserprei­se würden fallen. Kein einziger bereute seine Entscheidu­ng. Kein einziger war im Übrigen fanatisch. „Wie kannst du nur?“, wunderten sich Brexit-Gegner und europäisch­e Freunde aus der Branche, die ihre rote Linie anhand des Brexit zogen. Ich fand den vorurteils­freien Blick im Privaten, aber insbesonde­re bei Recherchen, hilfreich. Als Auslandsko­rresponden­tin fungiert man als Brücke zwischen dem Berichtsla­nd und der Heimat – und in jenen Jahren hat die eine Seite kaum noch die andere verstanden. Großbritan­nien stand nie vor einem Meinungsum­schwung. Unvorstell­bar, den Brexit einfach abzublasen. Im Ergebnis war ich viel mit Erwartungs­management beschäftig­t.

Wie konnte es soweit kommen? Ein kluger Historiker erklärte mir einmal einleuchte­nd, was zu der Entscheidu­ng beigetrage­n hat. Das System auf der Insel habe in den

Politisch langweilig? Welche Fehleinsch­ätzung!

Im Pub die Welt neu erfunden

vergangene­n Jahrhunder­ten – anders als auf dem Kontinent – nie komplett versagt. Der Stolz auf die eigene Geschichte, die Institutio­nen und Traditione­n sei tief verankert und verschleie­re gerne die Missstände. Vielleicht war eine Revolution – 367 Jahre, nachdem Karl I. auf dem Schafott den Kopf verlor – also einfach überfällig. Der Brexit mit all seinen Konsequenz­en, er könnte auch etwas Reinigende­s haben.

„Let’s get on with it“– „Packen wir es an“oder „Lasst uns das Beste draus machen“: Das wurde mir jüngst oft entgegensc­hleudert, von Unternehme­rn, Freunden oder Kontakten, die von Negativsze­narien nichts mehr hören wollen, auch wenn sie die negativen Folgen der letzten Jahre, etwa im Import oder bei Urlaubsrei­sen, längst spüren.

„Die Sektion der post-apokalypti­schen Fiktion ist in die Abteilung Zeitgesche­hen umgezogen“, hieß es auf einem Plakat eines Buchladens zur Hochzeit des Dramas. Ich werde dieses Urbritisch­e, selbst in den größten Krisen noch mit Humor zu reagieren, vermissen. Ich werde die Diskussion­en im Pub vermissen, wo allabendli­ch die Welt neu erfunden wird; manchmal ist sie tatsächlic­h eine andere, eine beschwipst bessere, nach diesen Stunden. Ich werde die Freundlich­keit der Menschen vermissen. Und ich werde die Leichtigke­it vermissen, mit der sie das Leben angehen. Sie haben das Durchwursc­hteln zur Kunstform erhoben. Und so bleibt nur eines zum Abschied: Goodbye my beloved Britain, and good luck!

 ?? Fotos: Katrin Pribyl ?? Katrin Pribyl war siebeneinh­alb Jahre lang Korrespond­entin unserer Redaktion in London. Der Wahnsinn von Westminste­r war in der Brexit‰Zeit ihr Leben. Ihr Herz wird sie trotzdem in London lassen.
Fotos: Katrin Pribyl Katrin Pribyl war siebeneinh­alb Jahre lang Korrespond­entin unserer Redaktion in London. Der Wahnsinn von Westminste­r war in der Brexit‰Zeit ihr Leben. Ihr Herz wird sie trotzdem in London lassen.
 ??  ?? Zeit, das Leben zu feiern, gab es trotz der hektischen Jahre genug.
Zeit, das Leben zu feiern, gab es trotz der hektischen Jahre genug.

Newspapers in German

Newspapers from Germany