Mittelschwaebische Nachrichten
Auf den Spuren von Ötzi
Auf dem Weg zur Stelle, wo vor 30 Jahren der tote Mann aus dem Eis gefunden wurde, läuft die Geschichte ständig mit. Denn die uralten Wege werden auch heute noch begangen. Rätsel gibt uns die berühmte Leiche immer noch auf
War dieser Mann nur ein Opfer von schlechtem Bergwetter? Die italienischen Polizisten, die im September 1991 am Ende des Ötztals auf das Tisenjoch auf 3200 Meter aufstiegen, nahmen die Leiche und den Fundort oben am Gletscher eher desinteressiert in Augenschein, fotografierten alles und zogen schnell wieder ab. Schon wieder ein Gletschertoter, der in diesem außergewöhnlich milden Herbst vor 30 Jahren zum Vorschein kam. Schon sechs andere tote Wanderer waren zuvor aus ihren Eisgräbern aufgetaucht. Keine große Sache.
Die altbackene Kleidung, die komischen Schuhe – das alles war noch gar nicht so gut zu erkennen. Stück für Stück musste der tote Körper aus dem Eis befreit werden. Als der Hüttenwirt der benachbarten Similaunhütte behauptete, der Leichnam stamme aus dem Mittelalter, machte man sich in der Presse über den Mann lustig – was für ein Aufschneider!
Dabei hat der Hüttenwirt tatsächlich weit untertrieben. Denn später, als der perfekt mumifizierte Leichnam das erste Mal wissenschaftlich untersucht wird, stellt sich heraus, dass der Mann viel älter ist, dass er vor 5300 Jahren von Schnee und Eis bedeckt wurde: ein perfekt erhaltener menschlicher Körper aus der Kupferzeit – Weltsensation! Besser hat kein menschlicher Körper die Zeiten überdauert. Dieser Mann aus der Vergangenheit hat dann von der
Wiener Arbeiter-Zeitung einen griffigen Namen bekommen: „Ötzi“.
Gefunden hat den Körper das Nürnberger Ehepaar Erika und Helmut Simon vor 30 Jahren. Am 19. September 1991 waren sie ein wenig abseits der Wege unterwegs und entdeckten einen seltsamen Fleck im Eis. Beim Näherkommen bemerkten sie, dass es ein Leichnam war. Heute liegt Ötzi einige Kilometer entfernt unten im Tal, genauer im Südtiroler-Archäologiemuseum bei minus sechs Grad Celsius und 98 Prozent Luftfeuchtigkeit.
Um die weltberühmte Leiche wurde seinerzeit heftig gestritten, erst zwischen Tirol und Südtirol, wo denn nun der Körper seine vorerst letzte Ruhestätte finden darf. Denn der Fundort liegt nah an der italienisch-österreichischen Grenze, 90 Meter auf italienischem Gebiet – aber nur, weil die Grenzzieher damals schlampig gearbeitet haben. Würde man heute die Grenze entlang der Wasserscheide ziehen, wie das eigentlich üblich ist, wäre Ötzi ein Österreicher geworden, denn dorthin fließt das Schmelzwasser. Jetzt ist Ötzi in Bozen eine Attraktion in fahlem Licht, können die Menschen dort sehen, wie unsere Vorfahren aussahen, die übrigens schon ziemlich hoch hinaufstiegen in den Bergen.
Diese Tour auf seinen Spuren startet von Vent aus. Wenn Sölden die Partyhauptstadt der Ötztaler ist, dann ist ein paar Kilometer weiter talaufwärts Vent das komplette Gegenteil davon: ein Bergsteigerdorf, das nur über eine Seilbahn verfügt, die den Weg zur Wildspitze, zum zweithöchsten Berg Österreichs, abkürzt. In alle anderen Richtungen aber geht’s nur mit Muskelkraft hinauf. An 3000ern mit und auch ohne Gletscher mangelt es nicht, auch nicht an Hütten.
Vor der Bergsteiger-Kapelle von Vent, an der vorbei es von 1900 Metern auf über 3000 Meter Höhe hinaufgeht, sind Bilder des Bergfotografen Bernd Ritschel zu sehen, die die faszinierende Welt der Gletscher zeigen. Unheimlich und auch magisch das Licht, das Ritschel einfangen wollte, bevor es lange erlischt, weil die Alpengletscher am Verschwinden sind. Was wieder zum toten Mann aus dem Eis führt, der dort oben vor 5300 Jahren starb, in einer Zeit, die klimatechnisch zu unserer führt. Denn damals endete eine Warmphase, in der so wenig Eis auf den Bergen lag wie heute, sonst hätte der Leichnam die Zeiten nicht überdauern können.
Wer auf Ötzis Spuren in Richtung Similaunhütte und Fundstelle unterwegs ist (eine bequeme Zwei-Tages-Tour), sieht die Landschaft mit anderen Augen, da schwingt ständig Geschichte mit, vor allem, wenn die Wanderführerin Barbara Haid einen auf Besonderheiten im Grenzgebiet zwischen Österreich und Italien, zwischen Tirol und Südtirol hinweist. Der Weg über das Niedertal hinauf wird nämlich seit Jahrtausenden von Menschen begangen.
Und Haid hat vieles zu erzählen, was ihr Vater herausgefunden hat, Hans Haid, der ein Volkskundler war, der sich intensiv mit der alpinen Kulturgeschichte beschäftigt hat und eher zufällig früh in den Fund des Mannes aus dem Eis involviert war. Zum Beispiel über die beiden Steinkreise dort am Weg: „Das war eine alte Kultstätte“, sagt sie. Nicht weit entfernt davon steht eine Schäferhütte. Auch mit ihr spannt sich ein Bogen in eine Jahrtausende zurückreichende Geschichte.
Denn Schäfer sind im Niedertal schon seit 6000 Jahren nachgewiesen. Sie kamen nicht von Ötz, also von der österreichischen Talseite aus – das Tal war damals sumpfig und schwer zu durchqueren – sie kamen über die 3000 Meter hohen Bergpässe von der Südtiroler Seite und haben in den Sommermonaten die hohen Weiden der Ötztaler Alpen genutzt. „Diesen Schaftrieb gibt es bis heute“, erzählt Haid, die selbst schon öfter daran teilgenommen hat.
Transhumanz heißt dieses Jahrtausende alte Spektakel. Über diesen Weg wurde vermutlich auch das Bergdorf Vent besiedelt. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein war die Verbindung von Vent über die 3000 Meter hohen Bergpässe nach Südtirol enger, als talwärts zu den anderen Orten des Ötztals. Erst durch Gebietsreformen und neue Grenzlinien zwischen Italien und Österreich änderte sich das. Auch den toten Mann im Eis brachte Haids Vater Hans in Verbindung mit den Schaftrieben. Er vermutete, dass es sich bei Ötzi um einen hochrangigen Schafhirten mit schamanischem Charakter gehandelt haben kann. Bei dieser Schlussfolgerung versuchte er, die naturwissenschaftlichen Forschungsergebnisse unter einen Hut mit kulturgeschichtlichen Untersuchungen zu bringen.
Entgegen des aktuellen Forschungsstands, der nach dem Fund einer Pfeilspitze an Ötzis linker Schulter davon ausgeht, dass der Gletschermann durch die Verletzung
verblutet und gestorben war, er also ein Mordopfer ist, das auf 3200 Meter Höhe im Frühsommer starb und anschließend von Schnee und Eis so bedeckt wurde, vertrat Haid die These, dass Ötzi nicht dort oben gestorben ist, sondern unten im Tal.
Seine Tochter Barbara, die sich mit ihrem Bruder um den Nachlass des Vaters kümmert, bringt die Ungereimtheiten zur Sprache, die die Mord-Theorie nicht wirklich erklären kann: „Wie kann der Leichnam denn so perfekt von allen Seiten mumifiziert sein?“– Die Antwort ihres
Vaters und einer römischen Forschergruppe lautete, dass er unten im Tal präpariert worden sei und erst später hoch oben in den Bergen an der heutigen Fundstelle bestattet wurde.
Auf der Similaunhütte angekommen rückt der Gletschermann in der Aufmerksamkeitsskala dann doch nach hinten: Denn das Panorama dort und der Ausblick auf den mehr als 3500 Meter hohen Similaun samt Gletscher will bestaunt werden. Ein paar Bergsteiger und Bergsteigerinnen steigen spät am Nachmittag vom Gipfel ab und sacken immer wieder ein. Dann wird in der Hütte auch mehr und mehr klar, dass es nicht nur Ötzi ist, auf dessen Spuren hier gewandert wird, sondern vor allem der Fernwanderweg E5, die Alpenüberquerung von Oberstdorf nach Meran, die über die MartinBusch-Hütte und die Similaunhütte hinab ins Schnalstal führt. Weitwanderer und Weitwanderinnen verbringen ihren letzten Hüttenabend vor dem Ziel. Eine Gruppe Bergsteiger übt an der Hütte Spaltenbergung im Eis.
Am nächsten Morgen, nach einer Nacht auf über 3000 Metern Höhe, ist es von der Similaunhütte nicht mehr weit zur Fundstelle. Über einen Weg am Grat entlang geht es ein bisschen hinauf. Immer wieder ergeben sich spektakuläre Blicke, der Ortler ist auf italienischer Seite weithin sichtbar.
Am Tisenjoch ist eine Pyramide errichtet, nicht genau am Fundort, sondern ein paar Meter davon entfernt.
Heute liegt Ötzi unten im Tal: im Archäologiemuseum
Haid machte ein Foto von der Leiche, es ging um die Welt
Damals, im September 1991, war Hans Haid mit Reinhold Messner und Hansi Kammerlander an der Similaunhütte verabredet – um über die historischen Verbindungen des Schnalstals mit dem Ötztal zu sprechen. Die beiden Extrembergsteiger wanderten und stiegen in diesem Herbst in sechs Wochen einmal rund um Südtirol. Als sie sich auf der Hütte trafen, war dort das große Gesprächsthema die Eisleiche, die eben vom Nürnberger Paar Simon entdeckt worden ist. Zwei Tage nach deren Fund machten sie sich gemeinsam auf den Weg, um den rätselhaften Bergtoten anzuschauen. Gerlinde Haid, die Frau von Hans Haid, machte nur ein Foto von dem toten Mann im Eis. Das Bild zeigte, wie er langsam aus dem Eis auftauchte. Authentisch, unverfälscht, ein Dokument, das um die Welt ging und in vielen Zeitungen, Zeitschriften und wissenschaftlichen Veröffentlichungen verwendet worden ist.
Dass Ötzis Leichnam die Jahrtausende überdauern konnte, liegt an vielen Zufällen – etwa, dass sich das Klima damals veränderte, es kälter wurde und der Körper über 5300 Jahre im Eis eingeschlossen und konserviert wurde. Normalerweise ist Gletschereis aber ständig in Bewegung. Das hätte dazu geführt, dass der Leichnam abtransportiert und vielleicht auch unter dem Gletscher zermahlen worden wäre. Barbara Haid sagt, dass das Eis sich an der Stelle, an der Ötzi lag, aber nicht bewegt hat. Erst die Auswirkungen des Klimawandels haben den Leichnam von seinem Grab im Eis getrennt. Vom Gletscher ist nichts mehr übrig geblieben.