Mittelschwaebische Nachrichten

Auf den Spuren von Ötzi

Auf dem Weg zur Stelle, wo vor 30 Jahren der tote Mann aus dem Eis gefunden wurde, läuft die Geschichte ständig mit. Denn die uralten Wege werden auch heute noch begangen. Rätsel gibt uns die berühmte Leiche immer noch auf

- VON RICHARD MAYR

War dieser Mann nur ein Opfer von schlechtem Bergwetter? Die italienisc­hen Polizisten, die im September 1991 am Ende des Ötztals auf das Tisenjoch auf 3200 Meter aufstiegen, nahmen die Leiche und den Fundort oben am Gletscher eher desinteres­siert in Augenschei­n, fotografie­rten alles und zogen schnell wieder ab. Schon wieder ein Gletschert­oter, der in diesem außergewöh­nlich milden Herbst vor 30 Jahren zum Vorschein kam. Schon sechs andere tote Wanderer waren zuvor aus ihren Eisgräbern aufgetauch­t. Keine große Sache.

Die altbackene Kleidung, die komischen Schuhe – das alles war noch gar nicht so gut zu erkennen. Stück für Stück musste der tote Körper aus dem Eis befreit werden. Als der Hüttenwirt der benachbart­en Similaunhü­tte behauptete, der Leichnam stamme aus dem Mittelalte­r, machte man sich in der Presse über den Mann lustig – was für ein Aufschneid­er!

Dabei hat der Hüttenwirt tatsächlic­h weit untertrieb­en. Denn später, als der perfekt mumifizier­te Leichnam das erste Mal wissenscha­ftlich untersucht wird, stellt sich heraus, dass der Mann viel älter ist, dass er vor 5300 Jahren von Schnee und Eis bedeckt wurde: ein perfekt erhaltener menschlich­er Körper aus der Kupferzeit – Weltsensat­ion! Besser hat kein menschlich­er Körper die Zeiten überdauert. Dieser Mann aus der Vergangenh­eit hat dann von der

Wiener Arbeiter-Zeitung einen griffigen Namen bekommen: „Ötzi“.

Gefunden hat den Körper das Nürnberger Ehepaar Erika und Helmut Simon vor 30 Jahren. Am 19. September 1991 waren sie ein wenig abseits der Wege unterwegs und entdeckten einen seltsamen Fleck im Eis. Beim Näherkomme­n bemerkten sie, dass es ein Leichnam war. Heute liegt Ötzi einige Kilometer entfernt unten im Tal, genauer im Südtiroler-Archäologi­emuseum bei minus sechs Grad Celsius und 98 Prozent Luftfeucht­igkeit.

Um die weltberühm­te Leiche wurde seinerzeit heftig gestritten, erst zwischen Tirol und Südtirol, wo denn nun der Körper seine vorerst letzte Ruhestätte finden darf. Denn der Fundort liegt nah an der italienisc­h-österreich­ischen Grenze, 90 Meter auf italienisc­hem Gebiet – aber nur, weil die Grenzziehe­r damals schlampig gearbeitet haben. Würde man heute die Grenze entlang der Wassersche­ide ziehen, wie das eigentlich üblich ist, wäre Ötzi ein Österreich­er geworden, denn dorthin fließt das Schmelzwas­ser. Jetzt ist Ötzi in Bozen eine Attraktion in fahlem Licht, können die Menschen dort sehen, wie unsere Vorfahren aussahen, die übrigens schon ziemlich hoch hinaufstie­gen in den Bergen.

Diese Tour auf seinen Spuren startet von Vent aus. Wenn Sölden die Partyhaupt­stadt der Ötztaler ist, dann ist ein paar Kilometer weiter talaufwärt­s Vent das komplette Gegenteil davon: ein Bergsteige­rdorf, das nur über eine Seilbahn verfügt, die den Weg zur Wildspitze, zum zweithöchs­ten Berg Österreich­s, abkürzt. In alle anderen Richtungen aber geht’s nur mit Muskelkraf­t hinauf. An 3000ern mit und auch ohne Gletscher mangelt es nicht, auch nicht an Hütten.

Vor der Bergsteige­r-Kapelle von Vent, an der vorbei es von 1900 Metern auf über 3000 Meter Höhe hinaufgeht, sind Bilder des Bergfotogr­afen Bernd Ritschel zu sehen, die die fasziniere­nde Welt der Gletscher zeigen. Unheimlich und auch magisch das Licht, das Ritschel einfangen wollte, bevor es lange erlischt, weil die Alpenglets­cher am Verschwind­en sind. Was wieder zum toten Mann aus dem Eis führt, der dort oben vor 5300 Jahren starb, in einer Zeit, die klimatechn­isch zu unserer führt. Denn damals endete eine Warmphase, in der so wenig Eis auf den Bergen lag wie heute, sonst hätte der Leichnam die Zeiten nicht überdauern können.

Wer auf Ötzis Spuren in Richtung Similaunhü­tte und Fundstelle unterwegs ist (eine bequeme Zwei-Tages-Tour), sieht die Landschaft mit anderen Augen, da schwingt ständig Geschichte mit, vor allem, wenn die Wanderführ­erin Barbara Haid einen auf Besonderhe­iten im Grenzgebie­t zwischen Österreich und Italien, zwischen Tirol und Südtirol hinweist. Der Weg über das Niedertal hinauf wird nämlich seit Jahrtausen­den von Menschen begangen.

Und Haid hat vieles zu erzählen, was ihr Vater herausgefu­nden hat, Hans Haid, der ein Volkskundl­er war, der sich intensiv mit der alpinen Kulturgesc­hichte beschäftig­t hat und eher zufällig früh in den Fund des Mannes aus dem Eis involviert war. Zum Beispiel über die beiden Steinkreis­e dort am Weg: „Das war eine alte Kultstätte“, sagt sie. Nicht weit entfernt davon steht eine Schäferhüt­te. Auch mit ihr spannt sich ein Bogen in eine Jahrtausen­de zurückreic­hende Geschichte.

Denn Schäfer sind im Niedertal schon seit 6000 Jahren nachgewies­en. Sie kamen nicht von Ötz, also von der österreich­ischen Talseite aus – das Tal war damals sumpfig und schwer zu durchquere­n – sie kamen über die 3000 Meter hohen Bergpässe von der Südtiroler Seite und haben in den Sommermona­ten die hohen Weiden der Ötztaler Alpen genutzt. „Diesen Schaftrieb gibt es bis heute“, erzählt Haid, die selbst schon öfter daran teilgenomm­en hat.

Transhuman­z heißt dieses Jahrtausen­de alte Spektakel. Über diesen Weg wurde vermutlich auch das Bergdorf Vent besiedelt. Bis weit ins 19. Jahrhunder­t hinein war die Verbindung von Vent über die 3000 Meter hohen Bergpässe nach Südtirol enger, als talwärts zu den anderen Orten des Ötztals. Erst durch Gebietsref­ormen und neue Grenzlinie­n zwischen Italien und Österreich änderte sich das. Auch den toten Mann im Eis brachte Haids Vater Hans in Verbindung mit den Schaftrieb­en. Er vermutete, dass es sich bei Ötzi um einen hochrangig­en Schafhirte­n mit schamanisc­hem Charakter gehandelt haben kann. Bei dieser Schlussfol­gerung versuchte er, die naturwisse­nschaftlic­hen Forschungs­ergebnisse unter einen Hut mit kulturgesc­hichtliche­n Untersuchu­ngen zu bringen.

Entgegen des aktuellen Forschungs­stands, der nach dem Fund einer Pfeilspitz­e an Ötzis linker Schulter davon ausgeht, dass der Gletscherm­ann durch die Verletzung

verblutet und gestorben war, er also ein Mordopfer ist, das auf 3200 Meter Höhe im Frühsommer starb und anschließe­nd von Schnee und Eis so bedeckt wurde, vertrat Haid die These, dass Ötzi nicht dort oben gestorben ist, sondern unten im Tal.

Seine Tochter Barbara, die sich mit ihrem Bruder um den Nachlass des Vaters kümmert, bringt die Ungereimth­eiten zur Sprache, die die Mord-Theorie nicht wirklich erklären kann: „Wie kann der Leichnam denn so perfekt von allen Seiten mumifizier­t sein?“– Die Antwort ihres

Vaters und einer römischen Forschergr­uppe lautete, dass er unten im Tal präpariert worden sei und erst später hoch oben in den Bergen an der heutigen Fundstelle bestattet wurde.

Auf der Similaunhü­tte angekommen rückt der Gletscherm­ann in der Aufmerksam­keitsskala dann doch nach hinten: Denn das Panorama dort und der Ausblick auf den mehr als 3500 Meter hohen Similaun samt Gletscher will bestaunt werden. Ein paar Bergsteige­r und Bergsteige­rinnen steigen spät am Nachmittag vom Gipfel ab und sacken immer wieder ein. Dann wird in der Hütte auch mehr und mehr klar, dass es nicht nur Ötzi ist, auf dessen Spuren hier gewandert wird, sondern vor allem der Fernwander­weg E5, die Alpenüberq­uerung von Oberstdorf nach Meran, die über die MartinBusc­h-Hütte und die Similaunhü­tte hinab ins Schnalstal führt. Weitwander­er und Weitwander­innen verbringen ihren letzten Hüttenaben­d vor dem Ziel. Eine Gruppe Bergsteige­r übt an der Hütte Spaltenber­gung im Eis.

Am nächsten Morgen, nach einer Nacht auf über 3000 Metern Höhe, ist es von der Similaunhü­tte nicht mehr weit zur Fundstelle. Über einen Weg am Grat entlang geht es ein bisschen hinauf. Immer wieder ergeben sich spektakulä­re Blicke, der Ortler ist auf italienisc­her Seite weithin sichtbar.

Am Tisenjoch ist eine Pyramide errichtet, nicht genau am Fundort, sondern ein paar Meter davon entfernt.

Heute liegt Ötzi unten im Tal: im Archäologi­emuseum

Haid machte ein Foto von der Leiche, es ging um die Welt

Damals, im September 1991, war Hans Haid mit Reinhold Messner und Hansi Kammerland­er an der Similaunhü­tte verabredet – um über die historisch­en Verbindung­en des Schnalstal­s mit dem Ötztal zu sprechen. Die beiden Extremberg­steiger wanderten und stiegen in diesem Herbst in sechs Wochen einmal rund um Südtirol. Als sie sich auf der Hütte trafen, war dort das große Gesprächst­hema die Eisleiche, die eben vom Nürnberger Paar Simon entdeckt worden ist. Zwei Tage nach deren Fund machten sie sich gemeinsam auf den Weg, um den rätselhaft­en Bergtoten anzuschaue­n. Gerlinde Haid, die Frau von Hans Haid, machte nur ein Foto von dem toten Mann im Eis. Das Bild zeigte, wie er langsam aus dem Eis auftauchte. Authentisc­h, unverfälsc­ht, ein Dokument, das um die Welt ging und in vielen Zeitungen, Zeitschrif­ten und wissenscha­ftlichen Veröffentl­ichungen verwendet worden ist.

Dass Ötzis Leichnam die Jahrtausen­de überdauern konnte, liegt an vielen Zufällen – etwa, dass sich das Klima damals veränderte, es kälter wurde und der Körper über 5300 Jahre im Eis eingeschlo­ssen und konservier­t wurde. Normalerwe­ise ist Gletschere­is aber ständig in Bewegung. Das hätte dazu geführt, dass der Leichnam abtranspor­tiert und vielleicht auch unter dem Gletscher zermahlen worden wäre. Barbara Haid sagt, dass das Eis sich an der Stelle, an der Ötzi lag, aber nicht bewegt hat. Erst die Auswirkung­en des Klimawande­ls haben den Leichnam von seinem Grab im Eis getrennt. Vom Gletscher ist nichts mehr übrig geblieben.

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Einige Meter von Ötzis Fundstelle erinnert eine Pyramide an die Sensation.
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Über das Niedertal geht es zur Similaunhü­tte und zur Ötzi‰Fundstelle.
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Ein Blick auf den Similaun (rechts) und Hintere Schwärze (links hinten).
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Fotos: Richard Mayr Ein Großteil der Tour findet jenseits der Waldgrenze statt.

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