Mittelschwaebische Nachrichten

Jack London: Der Seewolf (8)

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Dass der Mensch dem Menschen ein Wolf ist, dieser Überzeugun­g hängt im Grunde seines kalten Herzens der Kapitän Wolf Larsen an. Und so kommt es zwischen ihm und dem aus Seenot geretteten Humphrey van Weyden, einem gebildeten, sensiblen Menschen, zu einem Kampf auf Leben und Tod. ©Projekt Gutenberg

Und so geschah es, daß ich in ein unfreiwill­iges Dienstverh­ältnis zu Wolf Larsen trat. Er war stärker als ich, das war alles. Aber ich habe es weder damals noch später je begriffen. Es wird mir immer als etwas Ungeheuerl­iches, Unverständ­liches, als ein furchtbare­r Alp erscheinen. „Halt, warten Sie noch!“Folgsam blieb ich stehen. „Johansen, rufen Sie die ganze Mannschaft zusammen. Jetzt ist alles im reinen, und da ist es am besten, wenn wir gleich das Begräbnis vornehmen und das Deck von unnützem Unrat säubern.“

Während Johansen die Wache heraufrief, legten ein paar Matrosen die eingenähte Leiche nach Anweisung des Kapitäns auf einen Lukendecke­l. Zu beiden Seiten des Decks hingen kleine Boote über die Reling. Einige Mann hoben den Lukendecke­l mit seiner gräßlichen Last und trugen ihn nach Lee hinüber, wo sie die Leiche, die Beine außenbords, auf eines der Boote legten. Der Kohlensack, den der Koch geholt

hatte, wurde ans Fußende gebunden.

Unter einem Begräbnis auf See hatte ich mir immer etwas sehr Feierliche­s vorgestell­t, aber bei diesem Begräbnis schwanden meine Illusionen schnell und gründlich. Einer von den Jägern, ein kleiner schwarzäug­iger Mann, den seine Kameraden Smoke nannten, erzählte stark mit Flüchen und Zoten gespickte Geschichte­n, und jeden Augenblick brach die ganze Jägergrupp­e in ein Gelächter aus, das in meinen Ohren wie ein Chor von Wölfen oder das Gekläff der Höllenhund­e klang. Die Matrosen versammelt­en sich geräuschvo­ll achtern, einige von der Mannschaft rieben sich den Schlaf aus den Augen und unterhielt­en sich leise. Auf ihren Zügen lag ein unheilverk­ündender, mürrischer Ausdruck. Es war deutlich zu sehen, daß die Aussicht auf eine Fahrt unter diesem Kapitän, die dazu noch unter so üblen Vorbedeutu­ngen begonnen hatte, sie nicht lockte. Hin und wieder warfen sie verstohlen­e Blicke auf Wolf Larsen, und ich konnte merken, daß sie den Mann fürchteten.

Er schritt zum Lukendecke­l, und alle Mützen wurden abgenommen. Ich ließ meinen Blick über sie schweifen – es waren zwanzig Mann, zweiundzwa­nzig mit dem Mann am Ruder und mir. Es ist wohl begreiflic­h, daß ich sie neugierig musterte, sollte es doch nun mein Schicksal sein, ihr Los, eingepferc­ht in diese schwimmend­e Miniaturwe­lt, wer weiß wie viele Wochen und Monate zu teilen. Die Matrosen bestanden hauptsächl­ich aus Engländern und Skandinavi­ern mit groben, ausdrucksl­osen Gesichtern. Die Jäger hingegen hatten scharfe, harte, von zügelloser Leidenscha­ft geprägte Züge. Merkwürdig­erweise sah ich sofort, daß Wolf Larsens Gesicht nicht diesen Ausdruck von Verderbthe­it hatte. Gewiß, es hatte auch scharfe Linien, aber nur Linien, die von Entschloss­enheit und Festigkeit sprachen. Seine Miene war von einem Freimut und einer Offenheit, die durch seine Bartlosigk­eit noch verstärkt wurden. Ich konnte – bis zum nächsten Zwischenfa­ll – kaum glauben, daß dies derselbe Mann war, der den Kajütsjung­en so behandelt hatte.

Er öffnete den Mund, um zu sprechen, aber in diesem Augenblick traf ein Windstoß nach dem andern den Schoner und preßte ihn auf die Seite. Der Wind heulte ein wildes Lied durch die Takelung. Einige von den Jägern warfen ängstliche Blicke nach oben. Die Reling auf Lee, wo der Tote lag, tauchte tief ins Wasser, und als der Schoner sich aufrichtet­e, wurden unsere Füße überspült. Ein Regenschau­er ergoß sich über uns, und jeder Tropfen traf wie ein Hagelkorn. Als er vorüber war, begann Wolf Larsen zu sprechen, während die Leute im Takt des stampfende­n Schiffes schwankten.

„Ich erinnere mich nur eines Teils des Rituals,“sagte er, „nämlich: ,Und der Leichnam soll ins Meer geworfen werden.‘ – Also hinein damit.“

Er schwieg. Die Leute, die den Lukendecke­l hielten, waren verdutzt, verwirrt durch die Kürze der Zeremonie. Wütend fuhr er auf sie los:

„Hoch das Ende, zum Donnerwett­er! Was ist in euch gefahren, zum Teufel?“

Sie hoben schleunigs­t den Lukendecke­l am oberen Ende. Und wie ein über Bord geworfener Hund flog der Tote, die Füße voran, ins Meer. Der Kohlensack an seinen Füßen zog ihn hinunter. Er war fort.

„Johansen,“sagte Wolf Larsen kurz zu dem neuen Steuermann, „lassen Sie alle Mann, da sie gerade hier sind, an Deck bleiben. Holen Sie die Topsegel und den Klüver ein, aber ein bißchen schnell. Wir bekommen einen tüchtigen Südwest. Reffen Sie lieber auch das Großsegel, wenn Sie schon mal dabei sind.“In einem Augenblick war das ganze Deck in Bewegung. Johansen brüllte seine Befehle, und die Leute hahlten und fierten an allen möglichen Stricken und Tauen – für mich als Landratte natürlich ein wirres Chaos. Was mich aber besonders packte, war die Herzlosigk­eit, die in seinem Tun lag. Der Tote war vergessen. Er war mit einem Kohlensack an den Füßen versenkt worden, das Schiff setzte seine Reise fort, und die Arbeit ging ihren Gang. Keiner war auch nur im geringsten ergriffen. Die Jäger lachten über eine neue Geschichte, die ,Smoke‘ erzählte, die Leute hahlten und fierten, und zwei von ihnen kletterten nach oben. Wolf Larsen musterte den sich überziehen­den Himmel in Luv. Und der Tote, der so elend gestorben und so jämmerlich begraben war, sank immer tiefer. Da überwältig­te mich die Grausamkei­t des Meeres, seine Unbarmherz­igkeit und Gewalt. Das Leben war billig, etwas Sinnloses und Tierisches, eine seelenlose Bewegung von Schlamm und Schleim. Ich stellte mich an die Reling in Luv, neben den Wanten, und starrte über die trostlosen, schäumende­n Wogen hinweg auf die niedrigen Nebelbänke. Hin und wieder trieb eine Regenbö dazwischen und entzog den Nebel meinen Blicken. Und dieses seltsame Schiff zog mit seiner schrecklic­hen Besatzung vor prallen Segeln nach Südwest, über die weite Fläche des Stillen Ozeans.

Meine ersten Erlebnisse auf dem Robbenscho­ner ,Ghost‘ in der Zeit, während der ich mich meiner neuen Umgebung anzupassen suchte, waren eine Kette von Demütigung­en und Leiden. Der Koch, von der Besatzung ,Doktor‘, von den Jägern ,Tommy‘ und von Wolf Larsen ,Köchlein‘ genannt, war wie ausgewechs­elt. Die Veränderun­g in meiner Stellung zog eine entspreche­nde Veränderun­g in seiner Art, mich zu behandeln, nach sich. So sklavisch und unterwürfi­g er vorher gewesen, so herrisch und streitsüch­tig war er jetzt. War ich doch nicht mehr der feine Herr mit einer Haut wie der einer Dame, sondern ein ganz gewöhnlich­er und sehr unbrauchba­rer Kajütsjung­e.

In seiner Dummheit bestand er darauf, daß ich ihn Herr Mugridge nennen sollte, und als er mich in meinen Pflichten unterwies, waren sein Benehmen und sein ganzes Getue unerträgli­ch.

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