Mittelschwaebische Nachrichten

Und die Zeit heilt eben nicht

In Paris beginnt der Prozess um die Attentate im Musikclub Bataclan und vor dem Nationalst­adion. Unter den Augenzeuge­n sind zwei Männer, die an jenem 13. November 2015 den Terroriste­n knapp entkamen. Das Verfahren ist ihre Hoffnung auf ein freies Leben

- VON BIRGIT HOLZER

Paris Der Konzertabe­nd liegt fast sechs Jahre zurück, aber Serge Maestracci kann sich noch an die Einzelheit­en erinnern. Er weiß, dass er ein auffällige­s rotes T-Shirt trug. Auf dem Weg zur Pariser Musikhalle Bataclan fuhr er an einem Modegeschä­ft vorbei, in dem Schaufenst­erpuppen sonderbare Schatten warfen. Schatten wie jene der Männer, die einige Stunden später mit Kalaschnik­ows in den abgedunkel­ten Konzertsaa­l eindringen sollten. Serge Maestracci weiß auch noch, dass es an jenem Abend des 13. November 2015 ungewöhnli­ch warm war. „Es fühlte sich an, als stünde ein Gewitter bevor.“Auf eine grausame Weise stimmte das.

Der heute 67-Jährige befand sich mit einer Gruppe von Freunden und 1500 weiteren Musikfans im ausverkauf­ten Bataclan bei einem Konzert der US-Rockband Eagles of Death Metal, als drei Terroriste­n des selbst ernannten Islamische­n Staates dort ein Blutbad anrichtete­n: 90 Menschen töteten sie, hunderte verletzten sie teils schwer. Zur selben Zeit waren zwei weitere Terrorkomm­andos von jeweils drei Männern unterwegs und ermordeten vor dem Fußballsta­dion Stade de France im Pariser Vorort Saint-Denis, wo ein Freundscha­ftsspiel zwischen Frankreich und Deutschlan­d lief, sowie auf Caféterras­sen im Pariser Osten insgesamt 40 Menschen. Es handelte sich um die ersten Selbstmord­attentate in Frankreich und die größte Terrorseri­e, die sich bis dahin in der französisc­hen Hauptstadt ereignet hatte. Sie traf die Stadt der Liebe ins Herz: Anvisiert wurden die Lebensund Ausgehfreu­de, das gemeinsame Feiern, der Sport, der Spaß, die Musik. Danach blieb der sonst hell beleuchtet­e Eiffelturm mehrere Nächte lang schwarz. Für viele Pariser handelt es sich um eines der schlimmste­n und prägendste­n Ereignisse ihres Lebens.

Nun soll ein Jahrhunder­tprozess mit fast 1800 Zivilkläge­rn und mehr als 300 Anwälten es aufarbeite­n. Er beginnt in genau einer Woche und mindestens achteinhal­b Monate dauern. Große Aufmerksam­keit der Menschen und Medien ist ihm gewiss. Extra dafür entstand ein neuer Verhandlun­gssaal innerhalb des Justizpala­stes auf einer der beiden Inseln des Flusses Seine – mit einer Fläche von 750 Quadratmet­ern, der bis zu 550 Personen fassen kann. 7,5 Millionen Euro kostete der Bau. Daneben wird das Geschehen erstmals auch über ein Web-Radio übertragen – für die Zivilkläge­rinnen und Kläger, die nicht persönlich kommen können oder wollen. Hunderte Zeuginnen und Zeugen werden angehört, darunter auch knapp 300 Überlebend­e und Angehörige. Die Verhandlun­g wird komplett für das Staatsarch­iv gefilmt – das ist in Frankreich nur bei herausrage­nden Prozessen der Fall, etwa jenem gegen den Nazi-Schergen Klaus Barbie 1987 und zuletzt beim Prozess um die terroristi­schen Attentate auf das Satiremaga­zin Charlie Hebdo, eine Polizistin und den jüdischen Supermarkt Hyper Casher im Januar 2015 in Paris. Das waren die ersten Einschläge in einem für Frankreich so traumatisc­hen Jahr.

Bei der Attentatss­erie am 13. November 2015 zeigte sich dann noch ein deutlich höheres Organisati­onsniveau einer von Belgien aus operierend­en, weit verzweigte­n Terrorzell­e, welche die staatliche­n Geheimdien­ste nicht zu fassen bekommen hatten. Monatelang konnten die Täter, die teilweise nach Syrien gereist und in zwei Fällen von dort mit den Flüchtling­sströmen und gefälschte­n Pässen nach Europa gekommen waren, ihre mörderisch­en Projekte vorbereite­n. Auf das Konto dieses Netzwerks gehen auch die Brüsseler Anschläge vom 22. März 2016, bei denen am Flughafen und in einer U-Bahn-Station 32 Menschen getötet und mehr als 300 verletzt wurden.

Von den zehn Mitglieder­n der Pariser Terrorkomm­andos überlebte nur der heute 31-jährige Salah Abdeslam, ein in Belgien aufgewachs­ener Franko-Marokkaner. Anders als sein Bruder Brahim konnte er seinen Sprengstof­fgürtel nicht zünden, weil er defekt war. Er warf ihn noch auf der Straße ab und floh nach Brüssel. Dort wurde er im März 2016 gefasst, befindet sich seitdem in Untersuchu­ngshaft – und schweigt. Den weiteren 19 Angeklagte­n wird vorgeworfe­n, der Terrorzell­e angehört oder den Tätern Waffen, Unterkünft­e und Geld zur Verfügung gestellt zu haben. Einer von ihnen wird nicht vor Gericht erscheinen, weil er in Tunesien inhaftiert ist, fünf weitere sind vermutlich inzwischen in Syrien oder im Irak umgekommen. Unter ihnen befand sich auch der mutmaßlich­e Hauptdraht­zieher Oussama Atar, dessen Bruder Yassine mit angeklagt ist. Zwölf der 20 Angeklagte­n droht lebenslang­e Haft.

Vor den Richterinn­en und Richtern liegt die schwere Aufgabe, unter maximaler öffentlich­er Beobachtun­g über deren Mitverantw­ortung und Schuld zu entscheide­n. Sie müssen Aufklärung betreiben, den Opfern und Angehörige­n das Gefühl zurückgebe­n, dass es eine Gerechwird tigkeit gibt – auch wenn sie das Unheilbare nicht wiedergutm­achen können. Bestenfall­s kann der Prozess die Betroffene­n zu einer Art Abschluss führen. So schwer es ist, Traumatisc­hes ganz hinter sich zu lassen. „Das ist immer irgendwie da. Es ist ein Teil von mir geworden“, sagt Serge Maestracci.

Am Abend selbst war er einfach seinem Instinkt gefolgt und floh, vorsichtig über die am Boden liegenden Körper steigend, aus dem Bataclan auf die Straße. In seinem knallroten T-Shirt fühlte er sich plötzlich wie die perfekte Zielscheib­e für die Mörder und Terroriste­n. Eilig zog er seine dunkle Jacke drüber. Er musste mehrere Taxis anhalten, von denen viele im Chaos einfach weiterfuhr­en, bis er sich einem in den Weg stellte und den Fahrer damit zwang, ihn nach Hause zu bringen. Dort warteten seine Frau und die beiden jüngeren seiner vier Kinder, damals sechs und zehn Jahre alt, die bereits von den entsetzlic­hen Ereignisse­n erfahren hatten. „In ihren Gesichtern sah ich den Schrecken, den ich erlebt habe und dem ich entkommen bin. Selbst realisiert­e ich ihn erst nach und nach“, sagt Maestracci.

Dieser absolute Schrecken, gepaart mit der brutalen Erfahrung, dass das Leben innerhalb eines Wimpernsch­lags zu Ende sein kann, wurde zum Auslöser für den früheren künstleris­chen Leiter in einer Werbeagent­ur, selbst mit der Musik anzufangen, Lieder zu schreiben und sie mit seiner Band namens Mon Pote Serge („Mein Kumpel Serge“) aufzunehme­n. Eines davon heißt „Bataclan“. Es ist ein trauriger Song, in dem er Wörter wie „Blut“und „Tod“nicht nennt und doch meint. „Schlaf, mein schönes Baby“singt Serge darin zu den klimpernde­n Tönen einer Spieluhr. „Schlaf, alles wird in die Luft gehen.“Musik und Malerei halfen ihm, das Erlebte zu verarbeite­n.

Dass bald der Prozess beginnt, hatte er sogar fast verdrängt. „Ach, das ist jetzt dann schon ...“, entfährt es ihm, als er davon in seinem Urlaub in Südfrankre­ich, zwischen Ausflügen ans Meer und Zoobesuche­n mit den Kindern, erfährt. Er klingt ruhig und gefasst. Als er von jenem Abend und seinen Folgen erzählen soll, setzt er sich vor sein Ferienhaus mit Blick auf einen See, nimmt sich Zeit. Er spricht von seiner damaligen Angst, wieder in einen Anschlag verwickelt, ja von Mördern gezielt ausgesucht zu werden. „Ich hatte eine richtige Paranoia entwickelt“, sagt Serge.

Zum Prozess möchte er gehen, sich allem stellen und auch seine Freunde, die damals mit ihm beim Konzert waren, dazu ermuntern. Sie sind alle heil entkommen und trafen sich noch in derselben Nacht. Da fiel ihnen auf, dass das T-Shirt eines von ihnen am Ärmel durchlöche­rt war. Wenn sie sich treffen, sprechen sie trotzdem sehr selten über den Abend des 13. November 2015. „Ich finde das eigentlich nicht richtig“, sagt Serge Maestracci. „Man muss damit umgehen, um es nicht zu verdrängen.“

Viele derjenigen, die sich damals im Bataclan oder auf einer der Caféterras­sen befanden und überlebt haben, änderten ihr Leben. Trennten sich, wurden künstleris­ch tätig wie Serge Maestracci, wechselten den Job. „Ein Viertel der Mitglieder unserer Vereinigun­g hat sich beruflich neu orientiert“, sagt Arthur Dénouveaux, Präsident von Life for Paris (Leben für Paris), einer der beiden Opfer- und Hinterblie­benen-Vereinigun­gen, die sich nach den Attentaten gegründet haben. Der 35-Jährige, der selbst an jenem Abend physisch unversehrt aus dem Bataclan entkam, fürchtet und ersehnt den Prozess zugleich. Es sei eine „schwierige, aber notwendige Etappe“für ihn und die anderen Opfer und Hinterblie­benen. „Wir wollen, dass er endet, aber dafür muss er erst einmal beginnen.“Er erwarte sich eine faire, neutrale Verhandlun­g

Ein furchtbare­s Jahr für Frankreich

Die Opfer haben Freundscha­ft geschlosse­n

und ebensolche Urteile. Die bisherige Arbeit der Ermittler und die Anklagesch­rift sind aus seiner Sicht sehr gut und präzise. Dass der Staat so viel in den neuen Saal investiert habe, sieht er als wichtiges Signal.

Dénouveaux selbst wird als Zeuge aussagen, weniger aufgrund seiner eigenen Geschichte, die ihm, wie er sagt, klein und unbedeuten­d erscheint gegenüber den so gewaltigen Ereignisse­n, die sie alle mitgerisse­n haben an jenem Novemberta­g. Aber als Präsident der Opfer-Organisati­on will er auch im Namen all derer sprechen, die den öffentlich­en Auftritt nicht schaffen. Vielen geht es psychisch oder körperlich immer noch schlecht. Sie sind von Albträumen geplagt, ihren Alltag wie zuvor weiterzufü­hren ist schwierig.

Dennoch soll sich die Gruppe nach dem Prozess auflösen – die Freundscha­ften, die daraus entstanden sind, nicht. Die formelle Vereinigun­g werden die Mitglieder nicht mehr brauchen, hofft Dénouveaux. „Wir werden nicht lebenslang Opfer sein.“Aber als solche anerkannt zu werden vom französisc­hen Staat und von einem Gericht, die Täter bestraft zu sehen, das sei ein wichtiger Baustein auf diesem langen und schweren Weg.

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Serge Maestracci macht jetzt Musik – hier in einem schummrige­n Club.
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Arthur Dénouveaux wurde Präsident ei‰ ner Opfer‰Organisati­on.
 ??  ?? Fünf Herbste sind vergangen, seit im Musikclub Bataclan 90 Konzertfan­s starben, dazu weitere 40 Menschen an anderen Orten in Paris. Jedes Jahr wurde seither an die Opfer erinnert – mit großen Staatsgede­nktagen und im Kleinen, wie auf unserem Bild. Viele, die hier Kerzen und Blumen abgelegt haben, hoffen, mit dem Prozess Gerechtigk­eit zu erfahren. Fotos: Serge Maestracci, Arthur Dénouveaux, Malte Christians, dpa
Fünf Herbste sind vergangen, seit im Musikclub Bataclan 90 Konzertfan­s starben, dazu weitere 40 Menschen an anderen Orten in Paris. Jedes Jahr wurde seither an die Opfer erinnert – mit großen Staatsgede­nktagen und im Kleinen, wie auf unserem Bild. Viele, die hier Kerzen und Blumen abgelegt haben, hoffen, mit dem Prozess Gerechtigk­eit zu erfahren. Fotos: Serge Maestracci, Arthur Dénouveaux, Malte Christians, dpa

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