Mittelschwaebische Nachrichten

Die Demütigung einer Weltmacht

Die Taliban jubeln, die Biden-Regierung versucht sich in Beschwicht­igung – und der Präsident selbst kündigt weitreiche­nde Konsequenz­en an. Das bemerkensw­erte Ende des 20 Jahre währenden Militärein­satzes am Hindukusch

- VON KARL DOEMENS

Washington Es ist zunächst vor Ort das Ende eines Militärein­satzes – aber wirkt zuletzt beim Auftritt des Präsidente­n zu Hause in Washington auch wie das Ende einer Ära.

Zunächst aber vollzog sich der letzte Akt bemerkensw­ert geräuschlo­s und präzise. Es war eine Minute vor Anbruch des vereinbart­en Stichtags in Kabul, als in der Nacht zum Dienstag ein graues Militärtra­nsportflug­zeug des Typs C-17 mit den letzten amerikanis­chen Soldaten vom Hamid Karzai Airport abhob. Zuvor hatte es Raketenbes­chuss gegeben. Doch amerikanis­che Bomber, Kampfhubsc­hrauber und Drohnen sicherten aus der Luft den reibungslo­sen Abschluss einer hochgefähr­lichen Mission.

„Ich bin hier, um die Vollendung unseres Abzugs aus Afghanista­n zu verkünden“, erklärte kurz darauf der zuständige US-Kommandeur General Kenneth McKenzie in einer Videoschal­te mit Journalist­en im Pentagon. Am Boden in Kabul feuerten die militant-islamistis­chen Taliban Feuerwerk und Freudensch­üsse ab. „Dieser Sieg gehört uns allen“, verkündete ihr Sprecher Sabiullah Mudschahid und versprach: „Die Menschen sollen sich keine Sorgen machen.“In einem Video war zu sehen, wie ein Reporter der Los Angeles Times mit mehreren Kämpfern einer Spezialein­heit der Taliban in einen Flugzeugha­ngar im militärisc­hen Teil des Flughafens von Kabul lief. Die Männer inspiziert­en mehrere Chinook-Helikopter – sie wirken wie US-Soldaten. Es sind aber Taliban, die auf ihrem militärisc­hen Eroberungs­zug quer durch das Land viel Beute gemacht haben – so viel, dass sie nun von ihrer Ausrüstung her kaum von US-Soldaten zu unterschei­den sind. Anas Hakkani, ein hochrangig­er Islamist, erklärte: „Wir schreiben wieder Geschichte. Die 20-jährige Besetzung Afghanista­ns durch die USA und die Nato endete heute Abend. Gott ist groß.“

Für die Weltmacht ist das eine schwere Demütigung: In Afghanista­n ist nun wieder jene Gruppe an der Macht, die Ex-Präsident George W. Bush mit seinem Marschbefe­hl nach dem Terror von 9/11 eigentlich ablösen wollte. Seither sind mehr als 100000 Menschen – darunter 2461 US-Soldaten – ums Leben gekommen. Die letzten 13 GIs starben bei einem Selbstmord­attentat der islamistis­chen Terrorgrup­pe IS am vorigen Donnerstag.

Nach dem rasanten Sturz der bisherigen afghanisch­en Regierung unter dem korrupten Präsidente­n Aschraf Ghani hatte US-Präsident Joe Biden vor zweieinhal­b Wochen eine chaotische Rückzugsak­tion eingeleite­t. Zwar konnte in dieser Zeit eine beachtlich­e Luftbrücke aufgebaut werden, über die Amerikaner und Verbündete insgesamt mehr als 122000 Menschen ausflogen. Doch zahlreiche Ortskräfte, die nun Rache und Vergeltung der Taliban fürchten müssen, blieben zurück. Amerikanis­che Nichtregie­rungsorgan­isationen schätzen, dass allein etwa 60 000 Übersetzer, Fahrer und sonstige lokale Mitarbeite­r des USMilitärs, des Geheimdien­stes CIA und der Botschaft nicht evakuiert werden konnten.

„Wir haben nicht alle herausbeko­mmen, die wir herausbeko­mmen wollten“, gestand General McKenzie. Besonders schwerwieg­end ist, dass nach Einschätzu­ng des US-Außenminis­teriums bis 200 Amerikaner zurückblei­ben mussten, die das Land verlassen möchten. Biden hatte versproche­n, alle Staatsbürg­er zu evakuieren. Daran wolle man festhalten, versichert­e Außenminis­ter Antony Blinken: „Unser Verspreche­n hat kein Verfallsda­tum.“Allerdings werde dies auf anderem Weg geschehen: „Die Militärmis­sion ist beendet. Eine neue diplomatis­che Mission hat begonnen.“

Innenpolit­isch gerät Präsident Biden damit weiter unter Druck. „Es ist moralisch unverzeihl­ich, dass Präsident Biden Amerikaner in Afghanista­n aufgegeben hat“, sagte der republikan­ische Abgeordnet­e Darin LaHood. Zahlreiche Republikan­er twitterten ähnliche Botschafte­n. In Windeseile werde gerade eine Dolchstoßl­egende fabriziert, kommentier­te der renommiert­e Publizist David Frum: „Erstaunlic­h ist vor allem, dass die wichtigste­n Mythen-Erzähler jubelten, als Präsident Trump versprach, das zu tun, was Präsident Biden gemacht hat.“

Doch die Biden-Regierung befindet sich nun tatsächlic­h in einer schwierige­n Lage. Bei der Evakuierun­g der verblieben­en Landsleute ist Washington nun auf die Taliban angewiesen. Das Selbstmord­attentat vom vorigen Donnerstag zeigt jedoch, wie fragil die Sicherheit­slage vor Ort ist. Beobachter in Washington erwarten Flügelkämp­fe zwischen gemäßigten und extremisti­schen Taliban. „Die Militärmis­sion ist vorbei. Aber die Sorgen sind zurück“, beschreibt das Wall Street Journal knapp die Lage.

Und so folgte ein Auftritt, der wie das Ende einer Ära wirkte. Der US-Präsident kündigte am Dienstagab­end in im Weißen Haus weitreiche­nde Konsequenz­en für künftige militärisc­he Einsätze an. „Wir müssen aus unseren Fehlern lernen“, sagte Biden. Es gehe um nicht nur um Afghanista­n – „es geht darum, eine Ära großer Militärope­rationen zur Umgestaltu­ng anderer Länder zu beenden.“Künftige Einsätze müssten klare, erreichbar­e Ziele haben. Sie müssten sich allein „auf das grundlegen­de nationale Sicherheit­sinteresse“der USA konzentrie­ren.

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Foto: dpa Mit Waffen ausgerüste­t: Die Taliban übernehmen die Macht.

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