Mittelschwaebische Nachrichten
„Wir lassen keinen Jugendlichen im Regen stehen“
Zahlreiche Plätze in Schwaben bleiben zum Beginn des neuen Ausbildungsjahres erst mal unbesetzt. Handwerkspräsident Hans-Peter Rauch fordert deshalb ein Umdenken in den Schulen – und hofft auf Spätentscheider
Die Pandemie hat gezeigt: Ohne Verkäuferinnen und Handwerker geht nichts. Sie galten als systemrelevant. Spiegelt sich das nun – wenn heute das neue Ausbildungsjahr beginnt – wieder in steigenden Lehrlingszahlen? HansPeter Rauch: Kein Ausbildungsberuf hat von der Pandemie profitiert. Die Lehrlingssituation ist auf einem stabilen Niveau. Ende August hatten wir in Schwaben 3221 neue Ausbildungsverträge, Ende August 2019 waren es 3290. Wir könnten aber viel mehr gebrauchen. In Schwaben haben wir 700 offene Stellen in unserer Lehrstellenbörse, die Dunkelziffer dürfte noch deutlich höher sein, da nicht alle Firmen leere Plätze an uns oder die Arbeitsagentur melden.
Handwerker waren auch während der Corona-Krise gefragt, die Stellen sind oft krisensicher. Wieso finden nicht alle Betriebe Auszubildende?
Rauch: Wir müssen uns die Lehrlinge selbst erarbeiten. Das geht nur durch Berufsmessen und Praktika. All das fand in der Pandemie nur eingeschränkt statt. An den einzelnen Schüler kommen wir sonst nicht ran. Dazu kam noch der fehlende Präsenzunterricht.
Inwiefern war der ein Problem?
Rauch: Nicht jeder kommt mit dem Distanzunterricht zurecht, also wiederholen einige die neunte oder zehnte Klasse, um ihre Noten zu verbessern. Und die fehlen jetzt natürlich in den Betrieben. Mit der Pandemie, dem demografischen Wandel und der Akademisierung treffen uns drei Faktoren knallhart. So eine Situation hatten wir noch nie.
Ist das Schulsystem schuld an der zunehmenden Akademisierung?
Rauch: Ja, hier wurden über Jahre falsche Anreize gesetzt. Die „Guten“gehen immer aufs Gymnasium, die „Schlechten“werden nicht wirklich gefördert. Unsere Top-Leute, die Betriebe gegründet haben, kamen früher von den Realschulen, heute müssen diese Schüler unbedingt aufs Gymnasium – unabhängig davon, ob es zu ihren Fähigkeiten passt. Dort kommen wir nicht mehr an sie ran. Gymnasiasten sollten deshalb ein Praktikum in einem Handwerksbetrieb machen müssen. Ansonsten sehen viele gar nicht, welche Möglichkeiten es dort gibt.
Aber können diese Möglichkeiten wirklich mit einem Studium mithalten?
Rauch: Jeder meint, er kommt mit einem Studium weiter. Dabei waren die Chancen, im Handwerk Karriere zu machen und gutes Geld zu verdienen noch nie so gut – sofern man etwas drauf hat.
Aber das wird seltener?
Rauch: Es gibt heute mehr Jugendliche, die noch nicht ausbildungsreif sind, gerade bei einfachen Rechenwegen und Kopfrechnen. Manche sind ohne Taschenrechner hilflos. In stark digitalisierten Berufen wie Kfz-Mechatroniker, aber auch als Fachverkäuferin wird das zum Problem. Aber wir lassen keinen Jugendlichen im Regen stehen und haben eigene Förderprogramme. Wir werden alles versuchen, damit es mit der Lehre klappt. Trotzdem wäre es wichtig, mit praxisnahen Schulfächern vorzusorgen.
In welchen Berufen ist es besonders schwer, Lehrlinge zu finden?
Rauch: In allen, von denen man vollkommen veraltete Vorstellungen hat: Fachverkäufer, Metzger, Bäcker und Maurer. Dabei sind diese Berufe unverzichtbar und heute deutlich digitaler. Früher hat man Würste von Hand abgedreht, heute muss man dafür eine Maschine exakt einstellen können. Maurer arbeiten mit digitalen Bauplänen. Es lohnt sich, diese Berufe kennenzulernen. Ich rate deshalb zu möglichst vielen Praktika. Und wenn man dabei nur lernt, welcher Beruf nicht passt. Dann hat es den Zweck erfüllt. Wer noch unentschlossen ist, hat außerdem noch Zeit. Der Einstieg in die Lehre ist noch bis Jahresende möglich. Wir haben extra Programme gemeinsam mit Betrieben entwickelt. Niemand ist zu spät dran.
Interview: Emil Nefzger
» Infos zu freien Lehrstellen gibt es unter www.lehrstellenboerseschwaben.de
Hans-Peter Rauch, 59, stammt aus Waltenhofen, ist von Beruf Metz germeister und seit 2014 Präsident der Handwerkskammer für Schwaben.