Mittelschwaebische Nachrichten
Schuld und Schweigen
Kurz vor Kriegsende wurden in Rechnitz 180 Zwangsarbeiter ermordet. Deren Grab wurde bis heute nicht gefunden. Eva Menasse erzählt in ihrem funkelnden Roman „Dunkelblum“, wie ein solches Verbrechen nachwirkt
Man staunt immer wieder, dass so etwas geht, dass Literatur so etwas kann, Schriftstellerinnen und Schriftsteller: Mit so wunderbarer Leichtigkeit zu schreiben über etwas so bestürzend Schweres. Dass man als Leser dann so begeistert sein kann, so hingerissen, über Stil, Ton, einzelne Sätze, Beobachtungen. Und als Beispiel irgendeine Seite, willkürlich gewählt, 253, Zeile 25: „Und das ist eben das Problem mit der Wahrheit. Die ganze Wahrheit wird, wie der Namen schon sagt, von allen Beteiligten gemeinsam gewusst. Deshalb kriegt man sie nachher nie mehr richtig zusammen.“Es ist ein großer, kluger und sprachlich funkelnder Roman, der der österreichischen Schriftstellerin Eva Menasse mit „Dunkelblum“gelungen ist, und zugleich aber auch: ein düsteres Lehrstück, was das Verschweigen eines grauenhaften Verbrechens mit einer Gemeinschaft macht, wie die historische Schuld hineinwirkt bis in die nächsten Generationen…
Aber erst nun zu dem, was dem Roman zugrunde liegt, was er umkreist, was aber dennoch nicht das eigentliche Thema ist: Im März 1945, die russische Armee stand bereits wenige Kilometer entfernt, ereignete sich im Ort Rechnitz im Burgenland ein Massaker an jüdischen Zwangsarbeitern während eines ausschweifenden Festes. Margit Gräfin von Batthyány-Thyssen hatte ins Schloss geladen, die lokalen Nazi-Größen, SS, Gestapo und auch die dörfliche Hitlerjugend war dabei. Einige Gäste verschwanden für einige Stunden während des Festes, feierten danach ausgelassen bis in die Morgenstunden weiter. In der Zwischenzeit hatten sie etwa 180 Zwangsarbeiter gezwungen, ihr Grab zu schaufeln, sich auszuziehen und sie erschossen. Mit Ausnahme einer kleinen Gruppe von 18 Männern: Die mussten die Leichen erst verscharren, bevor sie Stunden später ebenfalls hingerichtet wurden.
Zwei Prozesse wurden nach dem Krieg geführt, zwei Täter wegen des Massakers verurteilt, zwei Kronzeugen ermordet, die Hauptverantwortlichen flüchteten. Gefunden wurde das Grab jener 18, die noch einen Tag lebten, das Massengrab der 180 Opfer trotz mehreren Suchaktionen, zuletzt in diesem Frühjahr, jedoch nie. Im Ort schwieg man beharrlich. Auch als später Filmteams kamen, Journalistinnen, Journalisten, als der evangelische Pfarrer, der katholische Dechant und ein Schuldirektor die Bevölkerung dazu aufriefen, doch Hinweise zu geben. Die Suche und das Schweigen – ein wahnsinniger, schrecklicher, aber für die Literatur auch schlichtweg ein dunkel faszinierender Stoff. Die österreichische Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek daraus ein Theaterstück gemacht, der Schweizer Journalist Sacha Batthyany, Großneffe von Margit, ging den Ereignissen in seiner Familiengeschichte nach. Und für Eva Menasse, geboren 1970 in Wien, war Rechnitz nun Vorlage für die fiktive titelgebende Kleinstadt Dunkelblum.
Das Massaker selbst ist bei Menasse nur so etwas wie die unterirdische Wurzel eines kriechenden, giftigen Gewächses, das sich mit seinen Ranken wie ein Geflecht über den Ort gelegt hat. Die Geschichte beginnt weit nach dem Zweiten Weltkrieg, auch an einem Wendepunkt: 1989, die Flüchtlinge aus der DDR stehen an der ungarischen Grenze und hoffen auf den günstigen Moment. Das abgelegene Dunkelblum, direkt am Eisernen Vorhang, ist plötzlich mittendrin im Weltgeschehen. Schreibt selbst schon wieder Geschichten, die es irgendwie hinausschaffen in die Welt: Auf einer Wiese werden die Gebeine eines Menschen gefunden, Soldat, Zwangsarbeiter, eine der von russischen Soldaten vergewaltigten und ermordeten Frauen Dunkelblums oder gar der Homo dunkelblumiensis? Der jüdische Friedhof, in dem eine Gruppe von Studenten über den Sommer daran arbeitet, die überwucherten Gräber von Dornen und Gestrüpp zu befreien, wird von Unbekannten geschändet, Nazi-Parolen auf die Grabsteine geschmiert. „Eine b’soffene G’schicht“, sagt der Bürgermeister. Aber man werde die Übeltäter finden. „Wir haben hier eine tüchtige Gendarmerie. Und wir dulden keine Sachbeschädigung.“
Ein Roman also auch noch mit bitterbösem Witz, mit feinstem Schmäh, dass man sich zum Beispiel gleich einen wie den Kollegen Wolf Haas beim begeisterten Lesen vorstellen kann. Ach, großartige Eva Menasse, wie sie da zum weit gefassten, daher auch nicht immer leicht zu überschauendem Sittenpanorama ausholt, mit so federleicht treffendem Strich, nur an den Rändern dann ein wenig ausfransend. Ein Kleinstadtbewohner nach dem anderen wird porträtiert, durchleuchtet, neben die anderen gestellt mit seiner ganzen Familiengeschichte, seiner Sicht aufs Ganze: Überforderter Bürgermeister, honoriger Alt-Nazi, naturbeseelter rauschbärtiger Bauer, erfolgreicher Biowinzer, ohrenspitzende Hotelwirtin, der verschwurbelt-verklemmte Reisebürobesitzer, die nassforsche, geschichtsinteressierte Junglehrerin, der schreckhafte Gemischtwahat renladenbesitzer – zurückgekehrt damals als einziger der ehemaligen jüdischen Bewohner Dunkelblums.
Wie das Schweigen in diese Gemeinschaft sich hineingefressen hat, in der jeder fast alles vom anderen weiß, hinterm Fenster auf Beobachtungsposten sitzt, aber keiner etwas wissen will, das ist das eigentliche Thema des vielstimmigen Romans. Überall Gräber, Gruften und Vergrabenes, über die und das man besser nicht spricht. Schon gar nicht mit einem wie jenem merkwürdigen Dauergast im Hotel, der Fragen über Fragen stellt. Dem wird gedroht, wie all jenen wenigen, die doch genauer hinschauen wollen, auf Zetteln und Postkarten.
Wer auf ein klärendes Ende, gar auf eine Kleinstadt-Katharsis hofft, den entlässt Menasse aus ihrem Roman vielleicht mit einer leichten Enttäuschung. Aber es ist der einzig wahre Schluss für diesen breit gefächerten Roman mit all den Grabungen und Tiefenbohrungen. Nie endende Geschichte. Ein Hinweis auf das Massengrab wird der honorige Alt-Nazi, nun schon in Demenz abgeglitten und nicht mehr Wächter seiner Worte, noch geben. Aber Menasse belässt es dabei. Keine Klärung – wie auch in Rechnitz.
Einigen wenigen ihres Personals aber schenkt sie zumindest Erkenntnisgewinn: der durchs Leben schlingernde Lowetz zum Beispiel, nach dem Tod seiner Mutter von Wien nach Dunkelblum zurückgekehrt mit der ignoranten Attitüde desjenigen, der schon mal ein paar Kilometer weitergekommen ist. Wie er etwas von Gräbern wissen solle, er sei doch 1954 geboren, sagt Lowetz noch zu Beginn, am Ende dann: „Aber untergründig war alles dagewesen, und er war fast erleichtert, dass es nicht an ihm lag, dass das Misstrauen und Unbehagen, das er all die Jahren in Dunkelblum verspürt hatte, eine benennbare Ursache hatte. Es machte ihm die Dunkelblumer mit einem Schlag sympathischer. Es gab eine Begründung für ihr verstocktes Gehabe, es war nicht nur, wie sie üblicherweise beteuerten, die Grenze allein, die Grenzlage, dass die Geschichte sie mit dem Rücken zur Wand gestellt hatte: Hinter uns beginnt Asien. Wenig überraschend kam heraus: Sie waren nicht besser als alle anderen.“Dieser Roman aber, wenn auch nicht nominiert für den Deutschen Buchpreis, ist einer der besten des Herbstes.
„Eine b´soffene G’schicht“, sagt der Bürgermeister