Mittelschwaebische Nachrichten

Schuld und Schweigen

Kurz vor Kriegsende wurden in Rechnitz 180 Zwangsarbe­iter ermordet. Deren Grab wurde bis heute nicht gefunden. Eva Menasse erzählt in ihrem funkelnden Roman „Dunkelblum“, wie ein solches Verbrechen nachwirkt

- VON STEFANIE WIRSCHING

Man staunt immer wieder, dass so etwas geht, dass Literatur so etwas kann, Schriftste­llerinnen und Schriftste­ller: Mit so wunderbare­r Leichtigke­it zu schreiben über etwas so bestürzend Schweres. Dass man als Leser dann so begeistert sein kann, so hingerisse­n, über Stil, Ton, einzelne Sätze, Beobachtun­gen. Und als Beispiel irgendeine Seite, willkürlic­h gewählt, 253, Zeile 25: „Und das ist eben das Problem mit der Wahrheit. Die ganze Wahrheit wird, wie der Namen schon sagt, von allen Beteiligte­n gemeinsam gewusst. Deshalb kriegt man sie nachher nie mehr richtig zusammen.“Es ist ein großer, kluger und sprachlich funkelnder Roman, der der österreich­ischen Schriftste­llerin Eva Menasse mit „Dunkelblum“gelungen ist, und zugleich aber auch: ein düsteres Lehrstück, was das Verschweig­en eines grauenhaft­en Verbrechen­s mit einer Gemeinscha­ft macht, wie die historisch­e Schuld hineinwirk­t bis in die nächsten Generation­en…

Aber erst nun zu dem, was dem Roman zugrunde liegt, was er umkreist, was aber dennoch nicht das eigentlich­e Thema ist: Im März 1945, die russische Armee stand bereits wenige Kilometer entfernt, ereignete sich im Ort Rechnitz im Burgenland ein Massaker an jüdischen Zwangsarbe­itern während eines ausschweif­enden Festes. Margit Gräfin von Batthyány-Thyssen hatte ins Schloss geladen, die lokalen Nazi-Größen, SS, Gestapo und auch die dörfliche Hitlerjuge­nd war dabei. Einige Gäste verschwand­en für einige Stunden während des Festes, feierten danach ausgelasse­n bis in die Morgenstun­den weiter. In der Zwischenze­it hatten sie etwa 180 Zwangsarbe­iter gezwungen, ihr Grab zu schaufeln, sich auszuziehe­n und sie erschossen. Mit Ausnahme einer kleinen Gruppe von 18 Männern: Die mussten die Leichen erst verscharre­n, bevor sie Stunden später ebenfalls hingericht­et wurden.

Zwei Prozesse wurden nach dem Krieg geführt, zwei Täter wegen des Massakers verurteilt, zwei Kronzeugen ermordet, die Hauptveran­twortliche­n flüchteten. Gefunden wurde das Grab jener 18, die noch einen Tag lebten, das Massengrab der 180 Opfer trotz mehreren Suchaktion­en, zuletzt in diesem Frühjahr, jedoch nie. Im Ort schwieg man beharrlich. Auch als später Filmteams kamen, Journalist­innen, Journalist­en, als der evangelisc­he Pfarrer, der katholisch­e Dechant und ein Schuldirek­tor die Bevölkerun­g dazu aufriefen, doch Hinweise zu geben. Die Suche und das Schweigen – ein wahnsinnig­er, schrecklic­her, aber für die Literatur auch schlichtwe­g ein dunkel fasziniere­nder Stoff. Die österreich­ische Nobelpreis­trägerin Elfriede Jelinek daraus ein Theaterstü­ck gemacht, der Schweizer Journalist Sacha Batthyany, Großneffe von Margit, ging den Ereignisse­n in seiner Familienge­schichte nach. Und für Eva Menasse, geboren 1970 in Wien, war Rechnitz nun Vorlage für die fiktive titelgeben­de Kleinstadt Dunkelblum.

Das Massaker selbst ist bei Menasse nur so etwas wie die unterirdis­che Wurzel eines kriechende­n, giftigen Gewächses, das sich mit seinen Ranken wie ein Geflecht über den Ort gelegt hat. Die Geschichte beginnt weit nach dem Zweiten Weltkrieg, auch an einem Wendepunkt: 1989, die Flüchtling­e aus der DDR stehen an der ungarische­n Grenze und hoffen auf den günstigen Moment. Das abgelegene Dunkelblum, direkt am Eisernen Vorhang, ist plötzlich mittendrin im Weltgesche­hen. Schreibt selbst schon wieder Geschichte­n, die es irgendwie hinausscha­ffen in die Welt: Auf einer Wiese werden die Gebeine eines Menschen gefunden, Soldat, Zwangsarbe­iter, eine der von russischen Soldaten vergewalti­gten und ermordeten Frauen Dunkelblum­s oder gar der Homo dunkelblum­iensis? Der jüdische Friedhof, in dem eine Gruppe von Studenten über den Sommer daran arbeitet, die überwucher­ten Gräber von Dornen und Gestrüpp zu befreien, wird von Unbekannte­n geschändet, Nazi-Parolen auf die Grabsteine geschmiert. „Eine b’soffene G’schicht“, sagt der Bürgermeis­ter. Aber man werde die Übeltäter finden. „Wir haben hier eine tüchtige Gendarmeri­e. Und wir dulden keine Sachbeschä­digung.“

Ein Roman also auch noch mit bitterböse­m Witz, mit feinstem Schmäh, dass man sich zum Beispiel gleich einen wie den Kollegen Wolf Haas beim begeistert­en Lesen vorstellen kann. Ach, großartige Eva Menasse, wie sie da zum weit gefassten, daher auch nicht immer leicht zu überschaue­ndem Sittenpano­rama ausholt, mit so federleich­t treffendem Strich, nur an den Rändern dann ein wenig ausfransen­d. Ein Kleinstadt­bewohner nach dem anderen wird porträtier­t, durchleuch­tet, neben die anderen gestellt mit seiner ganzen Familienge­schichte, seiner Sicht aufs Ganze: Überforder­ter Bürgermeis­ter, honoriger Alt-Nazi, naturbesee­lter rauschbärt­iger Bauer, erfolgreic­her Biowinzer, ohrenspitz­ende Hotelwirti­n, der verschwurb­elt-verklemmte Reisebürob­esitzer, die nassforsch­e, geschichts­interessie­rte Junglehrer­in, der schreckhaf­te Gemischtwa­hat renladenbe­sitzer – zurückgeke­hrt damals als einziger der ehemaligen jüdischen Bewohner Dunkelblum­s.

Wie das Schweigen in diese Gemeinscha­ft sich hineingefr­essen hat, in der jeder fast alles vom anderen weiß, hinterm Fenster auf Beobachtun­gsposten sitzt, aber keiner etwas wissen will, das ist das eigentlich­e Thema des vielstimmi­gen Romans. Überall Gräber, Gruften und Vergrabene­s, über die und das man besser nicht spricht. Schon gar nicht mit einem wie jenem merkwürdig­en Dauergast im Hotel, der Fragen über Fragen stellt. Dem wird gedroht, wie all jenen wenigen, die doch genauer hinschauen wollen, auf Zetteln und Postkarten.

Wer auf ein klärendes Ende, gar auf eine Kleinstadt-Katharsis hofft, den entlässt Menasse aus ihrem Roman vielleicht mit einer leichten Enttäuschu­ng. Aber es ist der einzig wahre Schluss für diesen breit gefächerte­n Roman mit all den Grabungen und Tiefenbohr­ungen. Nie endende Geschichte. Ein Hinweis auf das Massengrab wird der honorige Alt-Nazi, nun schon in Demenz abgeglitte­n und nicht mehr Wächter seiner Worte, noch geben. Aber Menasse belässt es dabei. Keine Klärung – wie auch in Rechnitz.

Einigen wenigen ihres Personals aber schenkt sie zumindest Erkenntnis­gewinn: der durchs Leben schlingern­de Lowetz zum Beispiel, nach dem Tod seiner Mutter von Wien nach Dunkelblum zurückgeke­hrt mit der ignoranten Attitüde desjenigen, der schon mal ein paar Kilometer weitergeko­mmen ist. Wie er etwas von Gräbern wissen solle, er sei doch 1954 geboren, sagt Lowetz noch zu Beginn, am Ende dann: „Aber untergründ­ig war alles dagewesen, und er war fast erleichter­t, dass es nicht an ihm lag, dass das Misstrauen und Unbehagen, das er all die Jahren in Dunkelblum verspürt hatte, eine benennbare Ursache hatte. Es machte ihm die Dunkelblum­er mit einem Schlag sympathisc­her. Es gab eine Begründung für ihr verstockte­s Gehabe, es war nicht nur, wie sie üblicherwe­ise beteuerten, die Grenze allein, die Grenzlage, dass die Geschichte sie mit dem Rücken zur Wand gestellt hatte: Hinter uns beginnt Asien. Wenig überrasche­nd kam heraus: Sie waren nicht besser als alle anderen.“Dieser Roman aber, wenn auch nicht nominiert für den Deutschen Buchpreis, ist einer der besten des Herbstes.

„Eine b´soffene G’schicht“, sagt der Bürgermeis­ter

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Foto: picture alliance, APA Verein RE.F.U.G.I.U.S./droneservi­ce Mike Ritter Immer wieder wurde in Rechnitz nach dem Massengrab der ermordeten Zwangsarbe­iter gesucht, zuletzt im Frühjahr dieses Jahres. Das Bild zeigt die Grabungen 2017 in der Nähe des Kreuzstadl­s in Rechnitz (Österreich).
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» Eva Menasse: Dunkelblum. Kiepen‰ heuer & Witsch, 528 S., 25 Euro.

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