Mittelschwaebische Nachrichten

Was macht ein Land zur Goldnation?

Vergleicht man die Staaten der Welt nach Goldmedail­lengewinne­rn pro Kopf, dann stehen die Niederland­e und Australien ganz oben

- VON FELIX LILL

Tokio Nach dem Spiel rollt Carina de Rooij durch die Mixed Zone, wo Journalist­en auf Athleten treffen, und klatscht sich souverän mit ihren Kolleginne­n ab. Das unaufgereg­te Verhalten erklärt: Hier ist nichts Besonderes passiert. Mit 109:18 haben die holländisc­hen Rollstuhlb­asketballe­rinnen gegen Algerien gewonnen, haushoch und erwartbar. „Wir hätten schon gerne Gold“, sagt de Rooij, als könnte sie es sich aussuchen. 2018 wurden die Niederländ­erinnen Weltmeiste­r, 2016 in Rio holten sie Bronze. Sofern nichts Unerwartet­es geschieht, werden sie in Tokio wohl Gold holen. Sie gelten als Maß der Dinge.

Auf Athletinne­n und Athleten aus den Niederland­en trifft das relativ häufig zu. Nicht nur im Rollstuhlb­asketball muss, wer Gold gewinnen will, zuerst an ihnen vorbeikomm­en. Auch im Rollstuhlt­ennis, Radfahren, Schwimmen und der Leichtathl­etik steht auf dem Siegertrep­pchen auffallend häufig jemand in einem orangefarb­enen Trainingsa­nzug. In Tokio hat Holland nach der ersten Wettkampfw­oche schon wieder 13-mal Gold geholt und 29 Medaillen insgesamt. Deutlich besser als Deutschlan­d, obwohl Hollands Bevölkerun­g nur ein gutes Fünftel der deutschen ausmacht.

Die Niederland­e gehören zu den Hochburgen des Parasports. Insgesamt haben zwar große Länder wie die USA, Großbritan­nien und Deutschlan­d über die Jahrzehnte deutlich mehr Medaillen gewonnen. Berücksich­tigt man aber die Bevölkerun­gsgröße, steht Holland gemeinsam mit den skandinavi­schen Ländern im historisch­en Medaillens­piegel ganz oben. Allesamt westliche Industries­taaten.

Aber was machen diese Länder besser als zum Beispiel Deutschlan­d, das im Pro-Kopf-Vergleich nur auf Platz 20 landet, oder die USA (Platz 38) und Gastgeberl­and Japan (Platz 50)? Die Rollstuhlb­asketballe­rin Carina de Rooij glaubt, das Erfolgsgeh­eimnis ihres Landes sei das Betonen von Inklusion, also der Idee, dass nicht nur legale Chancen, sondern auch tatsächlic­he Teilhabe entscheide­nd ist. „In Holland kriegt jedes Kind mit einer Behinderun­g einen Rollstuhl oder eine Prothese, oder was es auch braucht, vom lokalen Bezirk bezahlt.“

Rollstühle und Prothesen sind teuer, kosten mehrere tausend Euro. Aber dem holländisc­hen Staat ist es das wert. „In Deutschlan­d können Kinder mittlerwei­le auch über ihre Krankenkas­se Sportproth­esen erhalten“, sagt der deutsche Weitspring­er Markus Rehm. Seit einem Sportunfal­l als 14-Jähriger ist Rehm am rechten Bein amputiert, kann heute mit seiner Prothese weiter springen als jeder andere Mensch. „In meiner Kindheit gab es aber viel weniger Unterstütz­ung. Ich habe als 19-Jähriger durch Zufall zur Leichtathl­etik gefunden und dann durch meinen Verein meine erste Prothese erhalten.“

Dass Holland in dieser Sache besser dasteht als Deutschlan­d, ist mit Blick auf die politische­n Strukturen nicht weiter verwunderl­ich. Politologe­n ordnen Holland in Bezug auf Gesundheit­spolitik oft als „sozialdemo­kratischen Wohlfahrts­staat“ein, also ein System, das – wie die skandinavi­schen Länder – auf die Prinzipien Solidaritä­t und Universali­smus setzt.

Mit Blick auf den Behinderte­nsport ist die Idee aktiver Inklusion noch anderswo entscheide­nd. „In Holland sind sie viel besser als wir, Jugendlich­e zum Sport zu holen“, sagt Markus Rehm. Und Heinrich Popow, der 2012 Gold für Deutschlan­d im Sprint gewann und sich heute in der Sportförde­rung engagiert, glaubt, den Grund zu kennen: „Das größte Problem ist der Austausch der Daten. Es gibt jede Menge Jugendlich­e, die gern Parasport treiben würden. Aber die werden nicht aufgeklärt und informiert. Die Krankenkas­sen dürfen die Leute nicht vermitteln.“In Leverkusen, dem größten Stützpunkt für Parasport, suche man händeringe­nd nach Nachwuchs.

Hat man die Athleten dann gefunden, können diese in den erfolgreic­hsten Ländern auch häufig besser trainieren. „Wir haben Zugang zu denselben Anlagen wie nicht behinderte Athleten“, sagt die Rollstuhlb­asketballe­rin Carina de Rooij. „Es ist bei uns noch nie ein Problem gewesen, gute Hallenzeit­en zu kriegen. Wir können zweimal am Tag trainieren.“Aus deutscher Sicht sagt Markus Rehm dazu: „Selbstvers­tändlich ist das leider nicht.“Zudem mangele es an geschultem Personal. „Es wissen viele Trainer nicht, wie man mit Parasportl­ern trainieren muss“, so Rehm.

Was man dagegen wohl schon weiß: dass die Frage des Lebensunte­rhalts entscheide­nd ist. Die Deutsche Katrin Müller-Rottgardt, die als sehbehinde­rte Sprinterin schon Weltmeiste­rin geworden ist und nun in Tokio eine Medaille anpeilt, berichtet von großen Unterschie­den. „Andere Länder sind da schon lange viel weiter als Deutschlan­d. Großbritan­nien und sogar Brasilien haben großzügige­re Programme als wir. Aber es verbessert sich jetzt auch bei uns.“Müller-Rottgardt ist im Fördersyst­em der Bundeswehr, das für Parasportl­er erst seit 2013 besteht.

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