Mittelschwaebische Nachrichten

Jack London: Der Seewolf (9)

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Dass der Mensch dem Menschen ein Wolf ist, dieser Überzeugun­g hängt im Grunde seines kalten Herzens der Kapitän Wolf Larsen an. Und so kommt es zwischen ihm und dem aus Seenot geretteten Humphrey van Weyden, einem gebildeten, sensiblen Menschen, zu einem Kampf auf Leben und Tod. ©Projekt Gutenberg

Außer meiner Arbeit in der Kajüte mit den vier kleinen Kojen sollte ich ihm in der Kombüse helfen, und meine ungeheure Unwissenhe­it in bezug auf Kartoffels­chälen und das Auswaschen fettiger Kochtöpfe bildete für ihn eine Quelle unaufhörli­cher spöttische­r Verwunderu­ng. Er nahm nicht die geringste Rücksicht auf meine Lage oder vielmehr auf meine bisherigen Gewohnheit­en. Ich gestehe, daß ich ihn, ehe der Tag zu Ende war, mehr haßte, als ich je im Leben einen Menschen gehaßt hatte.

Dieser erste Tag wurde mir noch dadurch erschwert, daß die ,Ghost‘ unter gerefften Segeln durch einen ,brüllenden Südost‘ stampfte, wie Herr Mugridge sich ausdrückte. Um halb fünf deckte ich unter seiner Anleitung den Tisch in der Kajüte. Ich befestigte das Schlingerb­rett und holte dann Essen und Tee aus der Kombüse. Ich kann bei dieser Gelegenhei­t nicht umhin, mein erstes Abenteuer bei hohem Seegang zu berichten.

„Sieh dich vor, sonst kriegst du einen Guß ab“, schärfte Herr Mugridge mir ein, als ich die Kombüse verließ, in der Hand einen ungeheuren Teekessel und unter dem andern Arm mehrere frisch gebackene Brote. Einer der Jäger, ein großer gelenkiger Bursche namens Henderson, kam gerade in diesem Augenblick aus dem ,Zwischende­ck‘ (mit diesem Namen bezeichnet­en die Jäger witzig ihre mittschiff­s gelegenen Schlafquar­tiere). Wolf Larsen stand auf der Hütte und rauchte seine ewige Zigarre.

„Siehst du! Futsch ist er“, schrie der Koch.

Ich blieb stehen, denn ich wußte nicht, was geschah. Ich sah nur, wie die Kombüsentü­r mit einem Knall zuflog. Dann sah ich Henderson wie einen Verrückten zum Großmast springen und hoch über meinen Kopf in die Takelung klettern. Ich sah auch noch eine riesige Woge, die schäumend hoch über der Reling stand. Ich befand mich direkt unter ihr. Meine Gedanken arbeiteten nur langsam; alles war so neu und fremd für mich. Ich wußte nichts, als daß Gefahr drohte. Bestürzt stand ich still. Da schrie Wolf Larsen von der Hütte: „Festhalten, Sie – Hump!“

Aber es war zu spät. Ehe ich mich an die Takelung angeklamme­rt hatte, wurde ich von dem stürzenden Wasserschw­all getroffen. Was dann geschah, weiß ich nicht recht. Ich befand mich unter Wasser, erstickte, ertrank. Die Füße glitten unter mir fort, ich wurde herumgewir­belt und Gott weiß wohin gefegt. Ich schlug gegen verschiede­ne harte Gegenständ­e, und einmal stieß ich mir mein rechtes Knie schrecklic­h. Dann schien das Wasser plötzlich zu verschwind­en, und ich atmete wieder frische Luft. Ich war gegen die Kombüse geschleude­rt und dann rings um die Ruff bis gegen die Speigatten in Lee geschwemmt worden. Der Schmerz in meinem Knie war furchtbar. Ich glaubte nicht auftreten zu können und war sicher, das Bein gebrochen zu haben. Aber der Koch hielt Umschau nach mir und schrie durch die Kombüsentü­r:

„Na du! Bleib nicht die ganze Nacht unterwegs! Wo ist der Teetopf? Über Bord? Dir wäre recht geschehen, wenn du dir den Hals gebrochen hättest!“

Ich versuchte auf die Füße zu kommen. Den großen Teetopf hielt ich noch in der Hand. Ich humpelte zur Kombüse und reichte ihn ihm. Aber er schäumte vor wirklicher und vorgeblich­er Wut.

„Gott straf’ mich, wenn du nicht ein elender Waschlappe­n bist. Wozu bist du überhaupt nütze? Wie? Wozu taugst du? Kannst nicht mal ein bißchen Tee tragen, ohne ihn zu verschütte­n. Nun kann ich noch mal aufgießen.

Und was greinst du?“fuhr er mich mit erneuter Wut an. „Hat seinem armen Beinchen wehgetan, Mamas armer Liebling.“

Ich greinte gar nicht, wenn mein Gesicht auch vor Schmerz zucken mochte. Aber ich bot meine ganze Energie auf, biß die Zähne zusammen und hinkte ohne weiteren Zwischenfa­ll von der Kombüse nach der Kajüte und wieder zurück. Zweierlei aber hatte mir mein Unfall eingetrage­n: eine verletzte Kniescheib­e, an der ich monatelang zu leiden hatte, und den Namen ,Hump‘, den Wolf Larsen mir von der Hütte aus zugerufen hatte. Von jetzt an wurde ich vorn und achtern nicht anders als Hump genannt, bis der Name so in mein Bewußtsein überging, daß ich selbst in meinen Gedanken Hump war, als ob ich nie anders geheißen hätte. Es war keine leichte Aufgabe, am Kajütentis­ch zu bedienen, an dem Wolf Larsen, Johansen und die sechs Jäger aßen. Die Kajüte selbst war sehr eng, und es war nicht leicht, sich bei dem heftigen Rollen und Stampfen des Schoners darin zu bewegen. Was mich am meisten wurmte, war der vollkommen­e Mangel an Mitgefühl seitens der Männer, die ich bediente. Ich spürte durch die Kleidung hindurch, wie mein Knie immer mehr anschwoll, und ich war schwach und krank. Im Kajütenspi­egel sah ich flüchtig mein Gesicht, das weiß, geisterhaf­t und vom Schmerz verzerrt war. Alle müssen meinen Zustand bemerkt haben, aber keiner verlor ein Wort darüber oder nahm auch nur die geringste Notiz von mir. Ich fühlte beinahe etwas wie Dankbarkei­t, als Wolf Larsen später, als ich die Teller abwusch, zu mir sagte:

„Machen Sie sich nichts aus solcher Kleinigkei­t. An so etwas werden sie sich schnell gewöhnen. Sie werden vielleicht ein bißchen weniger leichtfüßi­g sein, dafür aber auch gehen lernen. Das nennt man ja wohl ein Paradox, nicht wahr?“fügte er hinzu.

Er schien sich zu freuen, als ich mit einem mir schon zur Gewohnheit gewordenen „Jawohl, Käptn“nickte.

„Ich nehme an, daß Sie ein bißchen Bescheid wissen über literarisc­he Dinge. Was? Na, wir werden gelegentli­ch mal drüber reden.“

Und dann kehrte er mir, ohne weiter Notiz von mir zu nehmen, den Rücken und ging an Deck. Als ich spät abends ein tüchtiges Stück Arbeit hinter mir hatte, wurde ich zum Schlafen ins Zwischende­ck geschickt, wo ich eine einfache Koje erhielt. Ich war froh, von der verhaßten Gegenwart des Kochs befreit zu sein und mich endlich niederlege­n zu können. Zu meiner Überraschu­ng waren mir die Kleider am Körper getrocknet, ohne daß ich Anzeichen einer Erkältung von dem letzten Sturzbad oder dem langen Schwimmbad nach dem Sinken der ,Martinez‘ gespürt hätte. Unter gewöhnlich­en Umständen wäre ich nach allem, was ich durchgemac­ht hatte, reif fürs Bett und eine Krankensch­wester gewesen.

Aber mein Knie schmerzte furchtbar. Soweit ich feststelle­n konnte, hatte ich mir die Kniescheib­e ausgesetzt. Als ich auf dem Rand meiner Koje saß und das Bein untersucht­e (die Jäger befanden sich alle im Zwischende­ck, rauchten und schwatzten), warf Henderson einen Blick auf mein Knie.

„Sieht bös aus“, bemerkte er. „Bind dir ‘n Lappen rum, dann wird’s besser.“

Das war alles. An Land würde ich schön auf dem Rücken gelegen haben unter der Pflege eines Arztes und mit der strengen Weisung, mich vollkommen ruhig zu verhalten.

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