Mittelschwaebische Nachrichten

Wo ist die Mutter von Joris?

- VON MARKUS BÄR

Eine Babyleiche, abgelegt im Wald: Woher der Junge stammt, ist auch nach drei Jahren nicht klar. Biologin Christine Lehn versucht das herauszufi­nden. Sie kann aus Knochen, Zähnen oder Haaren das Leben eines Menschen nacherzähl­en – und ist Joris’ Mutter auf der Spur

Frohnstett­en/München Es gibt Momente im Leben eines Menschen, die sind schrecklic­h und werden immer schrecklic­h bleiben. Selbst wenn man eigentlich unbeteilig­t ist. So in etwa muss es jenem Waldbesitz­er ergangen sein, der – genau vor drei Jahren am späten Vormittag – auf seinem Waldstück in BadenWürtt­emberg einen toten Säugling fand. Er hatte zunächst gedacht, es würde sich um eine Puppe handeln. Doch es war die Leiche eines Jungen, der offenbar gerade erst geboren worden war. Heute suchen Polizei und Staatsanwa­ltschaft immer noch nach der Mutter, die im Verdacht steht, ihr Kind dort zumindest ausgesetzt zu haben.

Die Ermittler werden inzwischen unterstütz­t vom Institut für Rechtsmedi­zin in München. Es ist weltweit führend, wenn es darum geht, durch die sogenannte Isotopenan­alyse Licht in dunkle Abgründe zu bringen. Und das Institut kann fasziniere­nde Aussagen treffen, die noch vor wenigen Jahren nicht möglich gewesen wären. Dank des wissenscha­ftlichen Fortschrit­ts werden die Ermittlung­smethoden immer feiner, immer besser – sodass selbst ein „Cold Case“, also ein „kalter“, lang zurücklieg­ender Fall, in dem es bislang keine Fortschrit­te gab, wieder zu einer heißen Spur wird. So heiß, dass Täter auch nach vielen Jahren noch gefasst werden – wie an dieser Stelle noch zu erzählen sein wird. Wird auch der Fall Joris zu einem solchen Fall?

Blicken wir noch einmal drei Jahre zurück – zu jenem Montag im September 2018. Der Tatort in dem Waldstück ist recht abgelegen, lediglich eine Landstraße führt vorbei, die die kleinen Ortschafte­n Frohnstett­en und Kaiseringe­n im Landkreis Sigmaringe­n verbindet. Nachdem der Waldbesitz­er seinen schrecklic­hen Fund gemeldet hatte, rücken umgehend die Ermittler an. Sie finden einen Säugling vor, der offenbar zunächst in ein Badetuch gehüllt und dann noch in eine Einkaufstü­te aus Papier gelegt wurde. Als die Beamten am Tatort ankommen, ist der Leichnam nicht mehr eingehüllt. „Es wird vermutet, dass Tiere den Säugling herausgezo­gen haben“, erklärt Daniela Baier, Sprecherin des Polizeiprä­sidiums Ravensburg,

gegenüber unserer Redaktion. Von der Kindsmutte­r fehlt jede Spur.

Die zuständige Staatsanwa­ltschaft Hechingen beantragt die Obduktion des Säuglings, die ergibt, dass der Junge erst am Wochenende zuvor auf die Welt gekommen war, nach der Geburt noch lebte und dann wohl erwürgt wurde. Bei der Kripo in Sigmaringe­n wird eine 16-köpfige Ermittlung­sgruppe namens „Wald“eingericht­et, die mit umfangreic­hen Recherchen samt Flugblatta­ktionen und Anwohnerbe­fragungen beginnt. Doch die Ermittlung­en kommen nicht so recht voran. Ende September 2018 wird Joris in aller Stille auf dem Friedhof in Stetten am kalten Markt beigesetzt.

Zwischenze­itlich liegt das Gutachten der toxikologi­schen Untersuchu­ng vor. Demnach hat die Mutter während der Schwangers­chaft Betäubungs­mittel und Medikament­e konsumiert, könnte demnach dem Drogenmili­eu zuzurechne­n sein. Doch auch diese Erkenntnis bringt die Beamten nicht weiter. Der Fall wird knapp ein Jahr später – am 28. August 2019 – in der ZDFSendung „Aktenzeich­en XY“nachgezeic­hnet. Zwar rufen danach rund 200 Menschen bei dem Sender an. Doch so gut wie kein Hinweis bezieht sich auf den Fall Joris und die gesuchte Kindsmutte­r. Der Fall droht also zu einem der besagten „Cold Cases“zu werden.

Mancher Fernsehzus­chauer kennt die gleichnami­ge US-Serie, in denen die Akten dann symbolträc­htig in einen Karton gepackt werden, der anschließe­nd in einem Regal im Archiv verstaubt. Ein Karton unter tausenden.

Doch im Fall Joris scheint nun, drei Jahre nach den Ereignisse­n, wieder Bewegung in die Ermittlung­en zu kommen. Der Grund dafür liegt in der Münchner Nussbaumst­raße, mitten im traditions­reichen Medizinvie­rtel. Gegenüber vom Altbau der psychiatri­schen Klinik befindet sich das Institut für Rechtsmedi­zin der Ludwig-Maximilian­sUniversit­ät. Im zweiten Stock hat Dr. Christine Lehn ihr Büro, das gleichzeit­ig ein kleines Labor ist, vielleicht 20 oder 25 Quadratmet­er groß. In diesem kleinen Raum werden Kriminalfä­lle gelöst.

Lehns Spezialgeb­iet, das seit 2001 an der Rechtsmedi­zin in München angesiedel­t ist, ist die sogenannte Isotopenan­alyse. Gerade ist der Teil eines Schädels aus der Nähe von Landshut eingetroff­en. „Solche Knochen werden oft bei Bauarbeite­n gefunden. Oder an Flussufer gespült“, sagt die Wissenscha­ftlerin und schaut auf das Fundstück, das in einem Karton, gesichert mit Plastikpol­stern, ins Institut kam. „Er könnte frühmittel­alterliche­n oder sogar keltischen Ursprungs sein und somit viele Jahrhunder­te oder einige

alt – oder auch nur 30 Jahre.“Zu klären ist zudem, ob der Fund kriminolog­ische Bedeutung hat.

Christine Lehn entnimmt den gesäuberte­n menschlich­en Überresten – in der Regel Knochenstü­cke, Fingernäge­l, Zähne und Haare, kurz: alles, was sich lange hält – eine Probe, die dann noch weiter aufbereite­t wird. Die Bestandtei­le schickt sie in ein Speziallab­or bei Pfaffenhof­en. Dort werden sie verbrannt. Und mittels eines sogenannte­n Massenspek­trometers ermittelt das Labor, in welchem Verhältnis bestimmte Stoffe der Probe, nämlich die Isotope, zueinander­stehen.

Es soll hier nicht zu chemisch werden, darum nur ganz kurz: Als Isotopen bezeichnet man Atome, die dieselbe Anzahl elektrisch geladener Protonen und Elektronen besitzen, aber eine unterschie­dliche Anzahl an elektrisch neutralen Neutronen. Deswegen sind sie unterschie­dlich schwer. Warum ist das nun in diesem Zusammenha­ng so wichtig?

Man hat folgenden Sachverhal­t festgestel­lt. Das Verhältnis der Isotope in den Körpergewe­ben ist abhängig von geografisc­her Herkunft und der Zusammense­tzung der festen und flüssigen Nahrung. Ein Beispiel macht die Tragweite dieser Erkenntnis deutlich: Menschen, die aus Nord- und Südamerika kommen, haben ein völlig anderes Verhältnis ihrer Kohlenstof­fisotope C12 und C13 als europäisch­e und asiatische Bürger. Weil sich Amerikaner­innen und Amerikaner im Vergleich zu Personen aus Europa extrem stark auf Maisbasis ernähren. Mais findet sich dort in sehr vielen, auch industriel­l erzeugten Produkten. „Bei uns hingegen wird Mais in erster Linie als Energieträ­ger – für Biogas – und als Tierfutter angebaut. Unsere Ernährung fußt viel mehr auf der Basis von Weizen und Roggen sowie in Asien auf Reis“, erklärt Biologin Lehn. Das kann man sehr gut im Isotopenve­rhältnis ablesen.

Aus unterschie­dlichen Körperteil­en kann die Wissenscha­ftlerin unterschie­dliche Dinge lesen. Zähne wachsen in erster Linie in der Kindheit und Jugend, Oberschenk­elknochen geben Informatio­nen der vergangene­n 30 Jahre ab und Rippen der letzten sechs bis zehn Lebensjahr­e. „Wenn also die Zähne ein Isotopenve­rhältnis anzeigen, das auf Maiskonsum hinweist, der Oberschenk­el auf Weizen und eine Rippe wieder auf Mais, dann lässt sich daraus deuten, dass der Betreffend­e als Kind in Amerika groß wurde, dann nach Europa zog und später wieder zurück.“Das ist eine ganz grobe BeJahrtaus­ende schreibung des Prinzips der Isotopenan­alyse, die aber wissenscha­ftlich immer weiter verfeinert wird.

Das Ganze lässt sich nicht nur mit Kohlenstof­fisotopen interpreti­eren. Wasserstof­fisotopen verweisen zum Beispiel darauf, ob jemand in Meeresnähe gewohnt hat oder im Gebirge. Ob er in einer kalten Zone wohnte oder in der Wärme. „Man könnte sogar erkennen, ob jemand in Hamburg groß wurde – oder in Garmisch“, erläutert die Wissenscha­ftlerin und deutet in ihrem Büro auf Landkarten, in denen ganze Landstrich­e mit bestimmten Isotopenve­rhältnisse­n korreliere­n.

„Spannend ist auch das Verhältnis der Stickstoff­isotope. Sie sagen aus, wie viel Fleisch und Fisch man isst. Ich kann bei einer Untersuchu­ng genau sehen, ob jemand Veganer gewesen ist.“Sie habe einmal Proben von Äbten der beginnende­n Neuzeit, also um das Jahr 1500 herum, deuten dürfen. „Die müssen unglaublic­h viel Fleisch gegessen haben“, sagt sie lachend. Andere, „normale“Zeitgenoss­en, die untersucht wurden, hingegen nicht. Äbte aus der Zeit des Frühmittel­alters hingegen, also rund 1000 Jahre früher, hätten hingegen tatsächlic­h asketisch gelebt. Schwefelis­otope wiederum zeigen den Einfluss des Meeres auf einen Menschen.

Lehn arbeitet mit Geologen der Universitä­t Amsterdam zusammen, die sich auf die Analyse der Isotopen von Strontium und Blei konzentrie­rt haben. Warum Blei? „Bis 1986 war Benzin verbleit. Das kann man ebenfalls am Isotopenve­rhältnis sehen.“Und: „In Westdeutsc­hland wurde das Benzin mit Blei aus Australien verbleit. In der DDR mit Blei aus dem Altaigebir­ge, in Frankreich mit afrikanisc­hem Blei, in den USA mit Blei aus dem Mississipp­iTal. All das ist ablesbar am Blei-Isotopenve­rhältnis.“

Lehn schrieb nun, nachdem auch die Ergebnisse aus Amsterdam vorliegen, das Gutachten über die Kindsmutte­r von Joris. Denn die Isotopenve­rhältnisse der Mutter spiegeln sich auch im Gewebe des Säuglings wider.

Ergebnis: Die Mutter dürfte sich während ihrer späten Schwangers­chaft überwiegen­d in wärmeren, meeresnahe­n Klimaregio­nen wie Frankreich, Spanien oder Griechenla­nd aufgehalte­n haben. Sie hatte vermutlich auch vorher nicht ihr ganzes Leben in Deutschlan­d verbracht, sondern könnte in jüngeren Jahren in Osteuropa oder in Skandinavi­en gelebt haben.

Doch sind auch diese Informatio­nen nicht ein bisschen dünn – für so viel Aufwand? Christine Lehn schüttelt den Kopf. Und erzählt die Geschichte von Rosi – ein „Cold Case“aus dem österreich­ischen Burgenland. Ein Mord im Prostituie­rtenmilieu im Jahr 1993, aber niemand wusste, woher das erdrosselt­e Opfer kam. Die Polizei ging immer von einem osteuropäi­schen Hintergrun­d aus. Doch aus diesem Bereich gab es damals keine Vermissten­meldung. Aber: „Nur zwei Wochen nach unserem Gutachten war die Identität geklärt“, erzählt Lehn. Das Gutachten belegte, dass das Opfer aus der Karibik kam – was niemand gedacht hatte. Und tatsächlic­h gab es aus der Karibik eine Vermissten­meldung. Rosis Schwester hatte sie eingereich­t. Die Identität konnte geklärt werden. Der Täter wurde allerdings noch nicht gefunden.

Hinter Schloss und Riegel kam ein Täter aber bei der Wasserleic­he von Köln. 2016 wurde der Torso eines jungen Mannes gefunden, ein Jahr später sein Schädel. „Die Zähne belegten, dass das Opfer nicht aus Europa, sondern aus einer bestimmten,

„Aktenzeich­en XY“brachte keinen Durchbruch

Der Mörder eines Kochs ist dank Isotopen überführt

kühlen Region Chinas kam.“Das war der entscheide­nde Hinweis. Die Polizei konnte das mit einem eskalierte­n Streit in der chinesisch­en Gastronomi­e in Köln in Verbindung bringen. Ein Kollege hatte einen 26-jährigen Koch erschlagen. Der Täter sitzt heute in Haft.

Christine Lehn öffnet derweil eine Schachtel und zieht den gut erhaltenen Oberschenk­elknochen einer Frau heraus. „Wieder ein ,Cold Case‘, nun aus der DDR“, erläutert sie. „Gefunden in einem Schacht im brandenbur­gischen Fürstenwal­de. Todeszeitr­aum wohl so zwischen 1979 und 1985. Mal sehen, was wir herausfind­en können.“

Zurück zu Joris. Bei der Polizei hofft man, dass die neuen Erkenntnis­se aus München neue Spuren ergeben. „Zeugenauss­agen nimmt die Kripo Sigmaringe­n, aber auch jede Polizeidie­nststelle entgegen“, sagt Polizeispr­echerin Daniela Baier. „Wir werden die Suche nicht aufgeben, der Fall wird sozusagen automatisi­ert, immer wieder neu angeschaut“, so die Polizeispr­echerin. Mord beispielsw­eise verjähre ja nicht. Ob es sich bei diesem Fall nun um Mord handelt, könne man aber nicht sagen. „Wir können ja noch nicht einmal genau sagen, ob die Kindsmutte­r das Baby ausgesetzt hat oder ob jemand anderes es umgebracht hat.“Solange weiter ermittelt wird, besteht Hoffnung. Hoffnung darauf, dass der Fall Joris letztlich nicht doch zu einem „Cold Case“wird.

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Foto: Polizei Ravensburg, dpa Wohl nur wenige Stunden währte das Leben des kleinen Joris, der auf dem Friedhof in Stetten am kalten Markt im Landkreis Sigmaringe­n beerdigt wurde. Auch drei Jahre spä‰ ter fehlt von der Mutter jede Spur.
 ?? Foto: Birgit Övgüer ?? Dr. Christine Lehn in ihrem Labor: Aktuell begutachte­t sie den Oberschenk­elknochen einer womöglich in der DDR ermordeten Frau.
Foto: Birgit Övgüer Dr. Christine Lehn in ihrem Labor: Aktuell begutachte­t sie den Oberschenk­elknochen einer womöglich in der DDR ermordeten Frau.
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Foto: Thomas Warnack, dpa In diesem Waldgebiet an der Landesstra­ße 453 zwischen Frohnstett­en und Kaiserin‰ gen wurde die Leiche von Joris gefunden.

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