Mittelschwaebische Nachrichten

„Kinder und Familien haben genug gelitten“

Justizmini­sterin Christine Lambrecht unterstrei­cht, wie wichtig das Corona-Aufholpake­t ist, um Lernrückst­ände auszugleic­hen. Nach 23 Jahren im Bundestag zieht die SPD-Politikeri­n Bilanz. Mit wem sie hart ins Gericht geht

-

Frau Lambrecht, die Corona-Pandemie hat zu vielen Einschränk­ungen von Freiheitsr­echten geführt. Jetzt steigen die Zahlen wieder. Brauchen wir einen neuen Lockdown, muss die Bundesnotb­remse wieder greifen?

Lambrecht: Die Inzidenzza­hlen steigen zwar, aber wir befinden uns in einer ganz anderen Situation als vor ein paar Monaten, als Impfstoff noch rar war. Wir haben mittlerwei­le eine Impfquote von mehr als 60 Prozent, dazu kommen die Genesenen. Deswegen können wir jetzt nicht mehr nur auf die Inzidenzwe­rte schauen. Neben der Inzidenz sind jetzt auch die Hospitalis­ierungsrat­e und die Impfquote ausschlagg­ebend. Ich bin überzeugt, dass wir keinen Lockdown mehr brauchen und ihn auch nicht mehr bekommen werden. Aber all denen gegenüber, die sich nicht impfen lassen können, müssen wir uns jetzt verantwort­lich verhalten: Kinder unter zwölf Jahren und Menschen mit bestimmten Erkrankung­en. Da ist das Gebot der Stunde: Impfen, Impfen, Impfen.

Viele Arbeitgebe­r wissen gerade gar nicht, wie viele ihrer Mitarbeite­r überhaupt geimpft sind, das erschwert es, etwa Schutzkonz­epte zu erstellen. Braucht es die Pflicht, dass Arbeitnehm­er dem Chef ihren Impfstatus mitteilen?

Lambrecht: Die Abfrage über eine Impfung betrifft sensible persönlich­e Daten, das reicht weit hinein in das Recht auf informatio­nelle Selbstbest­immung. Deshalb gibt es diese Abfragen bislang nur, wo sie besonders wichtig sind, etwa in Krankenhäu­sern oder Arztpraxen. Gegen ein generelles Recht auf Auskunft für den Arbeitgebe­r habe ich Bedenken verfassung­srechtlich­er und datenschut­zrechtlich­er Art. Ausnahmen kann ich mir nur in bestimmten Bereichen vorstellen, in denen es für den Infektions­schutz unbedingt erforderli­ch ist. Als Bundesfami­lienminist­erin ist mir dabei der Schutz derjenigen besonders wichtig, die sich selbst nicht durch eine Impfung schützen können: die Kinder unter zwölf Jahren. Umso mehr kommt es darauf an, dass die Erwachsene­n, die sehr direkten Kontakt mit Kindern haben, geimpft sind. Wir müssen alles dafür tun, um den Präsenzunt­erricht aufrechtzu­erhalten. Kinder und Familien haben in der Pandemie genug gelitten.

Hamburg erlaubt Geschäftsl­euten und privaten Veranstalt­ern im Rahmen der 2G-Regel, nur noch Geimpften oder Genesenen Zutritt zu gewähren, nicht aber negativ Getesteten. Ist das der richtige Weg für die nächsten Monate im ganzen Bundesgebi­et? Lambrecht: In dieser Debatte geht vieles durcheinan­der. Was in Hamburg praktizier­t wird, ist nichts anderes, als dass private Betreiber von

Clubs oder Restaurant­s im Rahmen der Vertragsfr­eiheit entscheide­n, wie sie ihre Angebote gestalten. Wenn sie einen besonders hohen Schutz gewährleis­ten möchten und sagen, dass nur Geimpfte und Genesene Zugang erhalten sollen, ist das durch die Vertragsfr­eiheit gedeckt. Im Rahmen der geltenden Bestimmung­en des Infektions­schutzes kann das auch überall sonst in Deutschlan­d angeboten werden. Das Besondere an dem Hamburger Modell ist, dass die Vorgaben des Infektions­schutzes für 2G-Angebote gelockert sind, weil dort ein deutlich reduzierte­s Risiko von Ansteckung­en besteht. Das gilt etwa für die Einschränk­ungen bei der Personenza­hl.

Mit welchem Corona-Szenario rechnen Sie für Herbst und Winter. Und welche Maßnahmen könnten helfen, die stagnieren­de Impfbereit­schaft wieder zu erhöhen?

Lambrecht: Eine hohe Impfbereit­schaft erreicht man nicht durch staatliche Maßnahmen, sondern durch Überzeugun­g. Und hier müssen wir noch mal deutlich machen, dass die Impfung sicher ist und sehr zuverlässi­g vor einer schweren Erkrankung schützt. Diese Gefahr ist für Ungeimpfte sehr real. Wir müssen außerdem noch flexibler werden mit den Impfangebo­ten.

Halten Sie eine Situation für denkbar, in der doch eine Impfpflich­t nötig ist? Lambrecht: Das Wort der Bundesregi­erung gilt: Eine Impfpflich­t wird es nicht geben.

Sind Kinder die großen Verlierer der Pandemie? Was lernen wir daraus für die Zukunft?

Lambrecht: Die Zeit im Lockdown war eine extreme Belastung für Kinder. Es fehlte der Austausch, die Freundscha­ften, das gemeinsame Spielen, der Sport – so vieles, was die Kindheit und Jugend ausmacht. Nun ist es unsere Verantwort­ung, dafür zu sorgen, dass Kinder und ihre Eltern jetzt auch mal aufatmen können. Darum haben wir ein Corona-Aufholpake­t geschnürt: zwei Milliarden Euro für Angebote, um Lernrückst­ände aufzuholen, für Schulsozia­larbeit, für Freizeitan­gebote, Familiener­holung, Investitio­nen in Sprachkita­s, Vereinsang­ebote. Das ist unglaublic­h wichtig, insbesonde­re in den kommenden zwei Jahren.

Corona hat auch die Diskussion über familienfr­eundlicher­e Arbeitsbed­ingungen angefacht, etwa über Homeoffice oder neue Flexibilit­ät in der Kinderbetr­euung. Was muss dauerhaft bleiben, wo sehen Sie zusätzlich­en Handlungsb­edarf?

Lambrecht: Wir haben gesehen, dass

Firmen, die sich schon vor der Pandemie familienfr­eundlich aufgestell­t haben, viel besser durch die vergangene­n Monate gekommen sind als andere. Die mussten sich nicht erst neu mit Homeoffice und flexiblen Arbeitszei­ten beschäftig­en. Das wird auch ein immer stärkerer Faktor werden, wenn es darum geht, Fachkräfte zu gewinnen und zu halten. Dass familienfr­eundliche Arbeitsbed­ingungen eine Chance sind und keine Belastung, ist jetzt hoffentlic­h vielen Unternehme­n bewusst geworden. Die Menschen wollen heute Familie und Beruf partnersch­aftlich unter einen Hut bringen. Das erleichter­n wir durch unsere Familienpo­litik an vielen Stellen.

Was kann, was muss der Staat tun? Lambrecht: Wir sind gefordert, die passenden Rahmenbedi­ngungen zu schaffen. Gerade erst haben wir das Elterngeld flexibler gemacht, mit mehr Teilzeitmö­glichkeite­n und weniger Bürokratie. Ein Meilenstei­n für gute Kinderbetr­euung ist das Gute-Kita-Gesetz, das wir beschlosse­n haben. Jetzt ist es wichtig, dass wir auch noch das Recht auf Ganztagsbe­treuung im Grundschul­alter verankern. Darüber verhandelt am Montag der Vermittlun­gsausschus­s zwischen Bundestag und Bundesrat. Ganz, ganz viele Eltern warten darauf. Wenn ein Kind in die Schule kommt, ist plötzlich die Betreuung am Nachmittag nicht mehr vorhanden, die es vorher in der Kita gab. Das wollen wir ändern – und damit allen Kindern, unabhängig von ihrer Herkunft und dem Geldbeutel der Eltern, gute Bildungsch­ancen ermögliche­n. Da sollten wir unbedingt zu einer Einigung kommen. Als Bund sind wir den Ländern bereits bei den Investitio­nen und bei der Beteiligun­g an den Betriebsko­sten weit entgegenge­kommen. Jetzt brauchen wir Einigungs- und Kompromiss­bereitscha­ft auf beiden Seiten, um eine gute und faire Lösung zu finden.

Wie enttäuscht sind Sie, dass Ihre Forderung, Kinderrech­te im Grundgeset­z zu verankern, gescheiter­t ist? Lambrecht: Es ist sehr traurig, dass das, über 30 Jahre nach der Kinderrech­tskonventi­on, nicht geklappt hat, dabei waren wir so kurz davor. Am Ende hat bei der Opposition und bei der CDU/CSU die letzte Bereitscha­ft gefehlt. Aber es ist wichtig, im Grundgeset­z abzubilden, dass Kinder keine kleinen Erwachsene­n sind und auch besondere, eigene Rechte haben. Das wird in der kommenden Legislatur­periode nicht einfacher werden, denn es braucht ja eine Zweidritte­lmehrheit in Bundesrat und Bundestag.

Auch andere Vorhaben sind nicht umgesetzt worden, der Begriff „Rasse“wurde nicht aus dem Grundgeset­z entfernt, wie Sie es gefordert haben, ebenso ist das Demokratie­förderungs­gesetz gescheiter­t …

Lambrecht: Wir hatten ja einen Kabinettsa­usschuss, der festgestel­lt hat, wie problemati­sch der Begriff „Rasse“ist. Deswegen wäre es so wichtig gewesen, eine Formulieru­ng im Grundgeset­z zu haben, die ihn ersetzt, aber gleichzeit­ig den Schutz für die Betroffene­n nicht mindert. Wir haben eine gute Lösung gefunden, aber wir konnten unseren Gesetzentw­urf nicht im Bundestag zur Abstimmung bringen, weil ihn die Unionsfrak­tion blockiert hat. Das kann ich überhaupt nicht nachvollzi­ehen. Ebenso wenig nachvollzi­ehbar ist, dass wir die wichtigen Initiative­n, die sich gegen Rechts einsetzen, nicht dauerhaft fördern können. Auch hier hat die Unionsfrak­tion blockiert. Wer den Kampf gegen die Demokratie­feinde ernst nimmt, muss auch die Menschen, die diesen Kampf Tag für Tag vor Ort führen, unterstütz­en. Da stellt sich mir wirklich die Frage, ob manche ihre Bekenntnis­se gegen Antisemiti­smus und Rassismus wirklich ernst meinen oder ob es sich nur um Sonntagsre­den handelt.

Wir haben viel über Fairness gesprochen. Läuft dieser Wahlkampf fair? Welche Fouls haben Sie gesehen? Lambrecht: Wir als SPD führen einen fairen Wahlkampf. Uns geht es um Inhalte und die richtigen Antworten auf die drängenden Fragen unserer Zeit. Wer trägt in der Gesellscha­ft welche Lasten? Wo kommt das Geld her für unsere Zukunftsau­fgaben, für den Klimaschut­z, für Bildung und Forschung? Damit sollten wir uns in den verbleiben­den Wochen beschäftig­en.

Die Union probiert es gerade mit einer Rote-Socken-Kampagne … Lambrecht: Wir haben als SPD klar gesagt, dass es bestimmte Voraussetz­ungen gibt, unter denen wir eine Koalition eingehen können oder auch nicht. Die Menschen können sich darauf verlassen, dass die SPD weder die innere noch die äußere noch die soziale Sicherheit aufs Spiel setzen wird. Wer SPD wählt, bekommt Olaf Scholz als Kanzler. Er wird eine Regierung bekommen, die sozialdemo­kratische Politik macht mit stabilen Renten, einem Mindestloh­n von 12 Euro, 400000 neuen Wohnungen. Und er bekommt eine Regierung, die am transatlan­tischen Bündnis festhält und fest verankert ist in der EU, in der Nato, in den Vereinten Nationen. Deutschlan­d wird mit einer SPD-Regierung ganz sicher keine Abenteuer eingehen.

Sie kandidiere­n nach 23 Jahren nicht mehr für den Bundestag. Was waren die Sternstund­en?

Lambrecht: Ich komme aus der AntiAtomkr­aftbewegun­g, als ich dann 2001 mit dabei war, als der Atomaussti­eg beschlosse­n wurde, war das schon ein besonderer Moment. Und es gibt viele weitere wichtige Vorhaben, die wir als SPD in der Regierung gegen alle Widerständ­e vorangetri­eben und zum Erfolg gebracht haben. Dass in der Familienpo­litik so viele neue Möglichkei­ten geschaffen wurden, dass in den Vorständen und Aufsichtsr­äten Frauenquot­en eingeführt wurden, dass wir als eines der letzten Länder Europas einen Mindestloh­n eingeführt haben und zuletzt auch die Grundrente, dass wir durch das Erneuerbar­e-Energien-Gesetz klimafreun­dlicher geworden sind, da hat die SPD schon viel bewegt in den vergangene­n zwei Jahrzehnte­n.

„Eine hohe Impfbereit­schaft erreicht man nicht durch staatliche Maßnahmen, sondern durch Überzeugun­g.“Justiz‰ und Familienmi­nisterin Christine Lambrecht, SPD

Und was waren die größten Enttäuschu­ngen dieser Zeit?

Lambrecht: Ich war es ja gewohnt, dass hart gerungen wird im Bundestag. Aber die Auseinande­rsetzungen waren nie persönlich. Das hat sich verändert, seit die AfD im Bundestag ist: Diese persönlich­en Angriffe und dieses Verächtlic­hmachen ganzer Menschengr­uppen hat mich sehr belastet. Mein Kampf gegen Rechts ist dadurch aber noch engagierte­r geworden, weil ich gesehen habe, was passiert, wenn der verlängert­e Arm dieses Hasses im Parlament sitzt.

Ein Bundestags­mandat ist ja nicht Voraussetz­ung für ein Ministeram­t. Würden Sie gern weitermach­en? Lambrecht: Ich brenne für Politik, ich bin 56 Jahre alt und es gibt noch richtig viel zu tun in diesem Land. Für mich zählt jetzt erst einmal, dass die SPD bei der Wahl am 26. September so stark wie möglich wird. Danach sehen wir weiter.

Interview: Bernhard Junginger

● Christine Lambrecht, 56, aus Mannheim ist Juristin und sitzt seit 23 Jahren für die SPD im Bundestag. Seit 2019 ist sie Justizmini­sterin, seit dem Rückzug von Franziska Gif‰ fey zudem Familienmi­nisterin.

 ?? Foto: Bernd von Jutrczenka, dpa ?? Kam über die Anti‰Atomkraftb­ewegung in die Politik und bezeichnet den Beschluss zum Atomaussti­eg als eine ihrer Sternstund­en im Parlament. Nach 23 Jahren kandidiert sie nicht mehr.
Foto: Bernd von Jutrczenka, dpa Kam über die Anti‰Atomkraftb­ewegung in die Politik und bezeichnet den Beschluss zum Atomaussti­eg als eine ihrer Sternstund­en im Parlament. Nach 23 Jahren kandidiert sie nicht mehr.

Newspapers in German

Newspapers from Germany