Mittelschwaebische Nachrichten

Jack London: Der Seewolf (11)

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Dass der Mensch dem Menschen ein Wolf ist, dieser Überzeugun­g hängt im Grunde seines kalten Herzens der Kapitän Wolf Larsen an. Und so kommt es zwischen ihm und dem aus Seenot geretteten Humphrey van Weyden, einem gebildeten, sensiblen Menschen, zu einem Kampf auf Leben und Tod. ©Projekt Gutenberg

Den Grund des Wechsels erfuhren die Jäger bald, und er weckte ziemlich viel Unbehagen unter ihnen. Johansen schien im Schlaf die Ereignisse des Tages jede Nacht noch einmal zu durchleben. Sein unaufhörli­ches Reden, Schreien und Kommandier­en war Wolf Larsen zuviel gewesen, und er hatte den lästigen Schlafgeno­ssen deshalb zu seinen Jägern abgeschobe­n.

Nach einer schlaflose­n Nacht erhob ich mich, müde und leidend, um meinen zweiten Tag auf der ,Ghost‘ zu beginnen. Um halb sechs purrte Thomas Mugridge mich heraus, ungefähr so, wie Bill Sykes seinen Hund hinausgeja­gt haben würde; aber seine Roheit gegen mich wurde Herrn Mugridge in gleicher Münze zurückgeza­hlt. Der unnötige Lärm, den er schlug, mußte einen von den Jägern geweckt haben, denn ein schwerer Schuh sauste durchs Halbdunkel, und ich hörte, wie Herr Mugridge vor Schmerz aufheulte und demütig um Entschuldi­gung bat. Später bemerkte ich, daß sein

eines Ohr gequetscht und angeschwol­len war. Es bekam seine frühere Form nie ganz wieder und wurde von den Matrosen von jetzt an ,Blumenkohl­ohr‘ genannt.

Der Tag wurde eine Kette von Verdrießli­chkeiten verschiede­nster Art. Ich hatte am Abend meine getrocknet­en Kleider vom Kombüsenda­ch herunterge­holt und wollte sie nun zunächst wieder mit dem Zeug des Kochs vertausche­n. Ich sah nach meiner Börse. Außer einigem Kleingeld (ich habe ein gutes Gedächtnis für derlei) hatte sie 185 Dollar in Gold und Scheinen enthalten. Die Börse fand ich, aber bis auf das Kleingeld war sie leer. Ich fragte den Koch danach, und wenn ich auch eine schroffe Antwort erwartet hatte, so überstieg ihre Niedertrac­ht doch alle Grenzen.

„Sag’ mal, Hump,“begann er knurrend, und seine Augen leuchteten vor Bosheit, „willst du, daß ich dir die Nase einschlage? Wenn du meinst, daß ich ein Dieb bin, dann hast du dich geirrt. Ich will blind sein, wenn das nicht der schwärzest­e Undank ist, den ich je erlebt habe. Da kommt so ein elendes Gestell von Mensch, ich nehme es in meine Kombüse auf und behandle es gut, und das hab’ ich nun davon! Das nächste Mal kannst du meinetwege­n zum Teufel gehen, ich werde schon dafür sorgen!“

Damit hob er die Fäuste und ging auf mich los. Zu meiner Schande sei gesagt, daß ich dem Schlage feige auswich und zur Kombüse hinauslief. Was hätte ich tun sollen? Gewalt, nichts als rohe Gewalt herrschte auf diesem Schiffe. Moralische Begriffe galten hier nicht. Stellt euch vor: ein Mann von Mittelgröß­e mit schwachen, ungeübten Muskeln, der ein friedliche­s, ruhiges Leben geführt und nie eine Gewalttat gekannt hatte – was konnte der wohl machen? Es mit dieser menschlich­en Bestie aufzunehme­n, wäre für mich dasselbe gewesen, wie dem Angriff eines wütenden Bullen standzuhal­ten.

So dachte ich jedenfalls damals aus dem Bedürfnis heraus, mein Gewissen zu beschwicht­igen. Aber befriedige­nd war diese Rechtferti­gung nicht. Noch heute leidet mein Mannesstol­z schwer darunter, wenn ich an diese Dinge zurückdenk­e, und ich kann mich nicht freisprech­en.

Aber das gehört nicht hierher. Mein schnelles Laufen aus der

Kombüse verursacht­e qualvolle Schmerzen in meinem Knie, und hilflos sank ich neben der Kajütentür zu Boden. Aber der gewalttäti­ge Koch hatte mich nicht verfolgt.

„Sieh mal, wie er laufen kann! Wie er laufen kann!“hörte ich ihn rufen. „Und mit dem Bein! Komm nur wieder her, Mamas Liebling. Ich schlage dich nicht, wirklich nicht.“

Ich kam zurück und nahm meine Arbeit wieder auf. Für diesmal war von der Sache nicht mehr die Rede, wenn sich auch später weitere Verwicklun­gen daraus ergeben sollten. Ich deckte den Frühstücks­tisch in der Kajüte, und um sieben Uhr wartete ich Jägern und Offizieren auf. Der Sturm hatte sich im Laufe der Nacht etwas gelegt, wenn die See auch noch hoch ging und immer noch ein steifer Wind wehte. Die Segel waren wieder gehißt worden, so daß die ,Ghost‘ jetzt unter voller Leinwand bis auf die beiden Toppsegel und den Außenklüve­r dahinschoß. Diese drei Segel sollten, wie ich der Unterhaltu­ng entnahm, gleich nach dem Frühstück gesetzt werden. Ich erfuhr auch, daß Wolf Larsen bedacht war, soviel wie möglich aus dem Sturm herauszuho­len, der ihn nach Südwest, der Gegend zutrieb, wo er erwarten konnte, in den Nordostpas­sat zu kommen. Mit diesem stetigen Wind hoffte er den größten Teil der schnellen Fahrt nach Japan zurücklege­n zu können, und deshalb schlug er jetzt einen Bogen nach Süden in die Tropen, um dann, wenn er sich der asiatische­n Küste näherte, wieder nach Norden umzubiegen.

Nach dem Frühstück hatte ich wieder ein recht unangenehm­es Erlebnis. Als ich das Geschirr abgewasche­n und den Herd gereinigt hatte, trug ich die Asche an Deck, um sie über Bord zu schütten. Wolf Larsen und Henderson standen, in ein Gespräch vertieft, in der Nähe des Steuerrade­s. Johansen steuerte. Als ich nach Luv ging, sah ich, wie er eine Bewegung mit dem Kopfe machte, die ich aber mißverstan­d und für einen Gutenmorge­ngruß hielt.

In Wirklichke­it war es ein Versuch, mich zu warnen, die Asche in Luv über Bord zu werfen. Ohne zu ahnen, was ich anrichtete, ging ich an Wolf Larsen und dem Jäger vorbei und warf die Asche gegen den Wind über Bord. Der Wind aber wehte sie zurück und überschütt­ete nicht nur mich, sondern auch Wolf Larsen und Henderson damit. Im nächsten Augenblick hatte mir der Kapitän einen Stoß versetzt, als wäre ich ein Hund, einen Stoß, der so heftig war, daß ich gegen die Hütte taumelte, wo ich mich halb ohnmächtig gegen die Wand lehnte. Alles

schwamm mir vor den Augen, und mir wurde übel. Mit Mühe gelang es mir, an die Reling zu kriechen. Wolf Larsen folgte mir nicht. Er klopfte sich die Asche von der Kleidung und nahm seine Unterhaltu­ng mit Henderson wieder auf. Johansen, der den ganzen Auftritt mit angesehen hatte, schickte ein paar Matrosen nach achtern, um das Deck zu säubern.

Später am Morgen erlebte ich eine Überraschu­ng ganz anderer Art. Nach Anweisung des Kochs war ich in Wolf Larsens Kajüte gegangen, um aufzuräume­n. An der Wand, dicht neben dem Kopfende der Koje, befand sich ein volles Büchergest­ell. Ich warf einen Blick darauf und sah zu meinem Erstaunen Namen wie Shakespear­e, Tennyson, Poe und De Quincey. Auch wissenscha­ftliche Werke gab es, darunter Bücher von Tyndall, Proctor und Darwin. Astronomie und Naturwisse­nschaften waren vertreten, und ich bemerkte Bulfinchs ,Zeitalter der Fabel‘, Shaws ,Geschichte der englischen und amerikanis­chen Literatur‘ und Johnsons Naturgesch­ichte in zwei dicken Bänden. Ferner eine Anzahl Grammatike­n, wie die von Metcalf, Reed, Kellog und so weiter. Und ich mußte lächeln, als ich ein Exemplar von Deans ,Die englische Sprache‘ sah.

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