Mittelschwaebische Nachrichten
Jiddn, Jeckes und das Scheitern
In seinem deutsch-jüdischen Gegenwartsroman „Hannah und Ludwig“zeichnet Rafael Seligmann ein Familienschicksal, das sich in den Farben des einstigen Ichenhauser Landjudentums widerspiegelt
Ichenhausen Dichtung oder Wahrheit. Ist das hier die Frage? Nein, ist es nicht. Der Roman des in Tel Aviv geborenen und heute in Berlin lebenden Historikers, Schriftstellers und Journalisten Rafael Seligmann „Hannah und Ludwig – Heimatlos in Tel Aviv“ist nämlich eingebunden in eine Art interkultureller Lovestory mit eindeutig biografisch-dokumentarischer Ausrichtung. Lifestylige Dokuliteratur sozusagen. Fakten und Fiktion geben sich die Hand. Mal mehr, mal weniger durchschaubar. Der Vorteil: Innerhalb einer, sowohl geschichtlich wie personell authentisch vorgegebenen Umrahmung, dürfen sich fiktive Ergänzungen vielfältig bis endlos ausweiten.
Seligmann bedient sich einer lockeren, allseits verständlichen Schreibweise, großes Versenken in literarphilosophisch intellektuelle Tiefen findet nicht statt. Dafür aber ein begleitender Einblick in den historischen Hintergrund, der von Deutschlands Nazivergangenheit ab den 30er Jahren bis zur Gründung des neuen Staates Israel führt. Im Kontext von Menschenwürde und Überlebenskampf ist dieses Geschichtspanorama ein eminent wichtiger Bestandteil. Die Familienmitglieder, so ist angegeben, haben das Beschriebene erlebt, alle übrigen Protagonisten seien erfunden. Allzu viele sind es nicht. Umso geschickter versteht es der Autor, das Muster der Gefühle so zu handhaben, dass die Beziehungen gerade dieser frei gezeichneten Figuren mit denen der Hauptpersonen in homogen gleichgezeichnetem Einklang stehen. Aber von vorn. Worum geht es? „Hannah und Ludwig“ist der zweite Teil einer Trilogie der FamiSeligmann, wobei man sich auch ohne Kenntnis der Vorgeschichte – sie geht zurück in Ichenhausens Landjudenzeit der 1930er Jahre - vom Sog leichtfüßigen Plaudertones fesseln lassen kann. Erzählt wird sie aus der Perspektive Ludwigs, dem Vater des Autors, in der Ich-Form. Um einer drohenden Verhaftung zu entgehen, fliehen die Brüder Ludwig und Heinrich im Sommer 1934 aus ihrer schwäbischen Heimat Ichenhausen über die Schweiz und Frankreich – überall sind sie „unerwünschte Ausländer“– in das britische Protektorat Palästina. Ein Koffer und keinerlei Sprachkenntnisse ist alles, was sie an Existenzgrundlage ins Land Zion mit sich führen.
Heinrich, von Angst erfüllt, hält die Nazis nur für einen Spuk, will baldmöglichst wieder zurück, „mein Land ist Deutschland!“Ludwig reizt das Abenteuer, er fühlt sich hier „wie neu geboren“. Tel Aviv bedeutet Frühlinghügel. „Ich bin entschlossen, ihn zu erklimmen.“Doch der Empfang in der neuen Heimat Palästina ist zweideutig, im allerbesten Sinn: „Israel heißt euch willkommen. Den Rest müsst ihr euch hier selbst erarbeiten!“Natürlich, keine Frage, ist doch ganz im Sinne all der von den Nazis aus Großdeutschland geprügelten Jidden. Hier jetzt unter ihresgleichen mit spöttischem Unterton als „Jeckes“(naive Deutsche) bezeichnet. Das Leben macht ihnen allesamt die Eingewöhnung nicht gerade leicht, die unerträgliche Hitze, das schwülfeuchte Klima, die brachiale Abwendung jüdischer Zuwanderung durch die britischen Besatzer, die Feindschaft der Araber, und vor allem die Nachrichten aus Deutschland über den Einsatz von Hitlers Kriegsmaschinerie, über Pogrome, Zwangsenteignungen, willkürliche Verhaftungen, Deportationen und KZ-Gräuel. Heinrich findet schließlich Arbeit als Zeitungsausträger, Ludwig, gelernter Kaufmann, als Büroputzer, Orangenund später als Mitarbeiter in einem Textilunternehmen, in dem er sich gar bis zum Prokuristen hocharbeiten kann, wegen - oder trotz? - seinem fast übermenschlich ausgeprägten Hang zu selbstaufopfernder Aufrichtigkeit und kreuzliensaga ehrlicher Rechtschaffenheit. Egal, jetzt können sie guten Gewissens endlich daran denken, den Rest der in Nazideutschland hochgefährdeten Mischpoche nachkommen zu lassen, Vater Isaak (Haus und Hof in Ichenhausen hat er bereits verpflücker kauft), Mutter Klara, Schwester Thea und Bruder Kurt. Der Autor versteht es, mit der präzisen Schilderung von jüdischem Brauchtum, mit Anekdoten und scharfsinnigen Rabbinerwitzen zu fesseln, lässt aber auch tief und schonungslos sowohl in die Intimsphäre seiner Familie blicken wie auch in die brachiale Entstehungsgeschichte („stop your jewish bullshit!!“) des neuen Staates Israel, bevor auf Seite 167 dann die bildhübsche Berlinerin Hannah, eine Ostjüdin, deren Familie die Grausamkeiten von Folter und Vertreibung am eigenen Leibe zu spüren bekam, dem Liebesleben Ludwigs den richtigen Schritt in die richtige Richtung weist. „Nenne mich Vater“, sagt Isaak, Schwiegervater in spe, mit warmer Baritonstimme und patriarchalisch unumschränkter Dominanz.
„In diesem Moment wusste ich, dass ich Ludwigs Frau werde“, sagt sich Hanna als Ich-Erzähler Nummer zwei. Nach der Geburt von Söhnchen Rafael, dem dritten IchErzähler und geliebten, verehrten, vergötterten Herzblatt der gesamten Mischpoche, machen sich erste Risse in Beziehung sowohl zum verblassenden Gelobten Land als auch der Familie bemerkbar. Eheliche Zwistigkeiten, Verlust des Arbeitsplatzes, Schulden und Totalbankrott als Kleinunternehmer sind Auslöser für einen erneuten Neubeginn. „Wir waren nicht einmal in der Lage, uns ausreichend zu ernähren.“Die Familie geht 1957 an Bord eines Schiffes. „Nach knapp zwei Dutzend Jahren, mit nichts als dem gleichen Koffer von damals, geht es zurück in die alte Heimat. Deutschland ist jetzt unsere Zukunft!“Und die findet ihren Niederschlag in „Judenbub“, dem demnächst erscheinenden dritten und letzten Teil von Rafael Seligmanns Familiensaga.
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Das Buch Rafael Seligmann „Hannah und Ludwig – Heimatlos in Tel Aviv“, LangenMüller, 416 Seiten, 24 Euro, ISBN 9783784435695