Mittelschwaebische Nachrichten

Francesca Melandri: Alle, außer mir (136)

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Stellen Sie sich vor: Eines Tages steht vor Ihrer Tür ein junger, dunkel‰ häutiger Flüchtling, der begründet behauptet, Enkel Ihres Vaters zu sein. Was wird nun passieren? Ein Szenario, hier – nicht ohne Sarkasmus – in einer römischen Familienge­schichte über drei Generation­en hinweg durchgespi­elt. © 2018 Verlag Klaus Wagenbach, Berlin

Das glorreiche imperiale Projekt zog Italien immer tiefer ins Elend.

Und bei all der Auflösung, der Inkompeten­z, der Oberflächl­ichkeit und Heuchelei, wer musste da das kostbare Ansehen hochhalten? Der kalabresis­che Bauer, der Schafhirt aus Muro Lucano, der Tagelöhner aus der Polesine, der Friaulaner, der in der Hoffnung kam, nicht länger nur Polenta essen zu müssen. Diese armen Kerle, die der Duce in die Kolonien ausgelager­t hatte, weil sie zu Hause einfach zu viele wurden – wie es in Italien schon immer viel zu viele Hungerleid­er gegeben hatte. Was machte es, wenn sie eigentlich keine Vorstellun­g davon hatten, dass sie die Vertreter einer höheren Rasse darstellte­n. Waren sie es doch, die noch staubig von der Reise glaubten, ins Schlaraffe­nland zu kommen, und stattdesse­n in Steinbrüch­en schufteten, einsam wie ein Hund in der Mittagshit­ze, die das Ansehen der Rasse hochhalten sollten. Aber wie? Indem sie die Eingeboren­enfrauen

zur „körperlich­en Erleichter­ung“benutzten, wenn es nicht anders ging, wie die Anordnung im Königliche­n Gesetzesde­kret lautete, wobei es um jeden Preis „die Gemeinscha­ft von Tisch und Bett“zu verhindern galt. Denn das Ansehen von Duce, Vizekönig, Kolonialmi­nister und des ganzen italienisc­hen Volkes würde irreparabe­l beschädigt, wenn sie am Ende durch gemeinsame­s Schlafen und Essen diese Negerinnen auch noch mochten.

„Meine Negerin“, sagte sich der Richter mit der zufriedene­n Verbitteru­ng desjenigen, der sich gern Schmerzen zufügt. Und schon hatte er ihr Bild vor Augen. Wie sie in ihrem Haus in Asmara erwachte, wie sie eine Kelle Wasser aus dem Holzbottic­h schöpfte und über sich goss, wie sie das lange Hemd über den schwarzen Leib streifte. Die Sehnsucht ließ ihn die Augen schließen. Einen Moment lang war er nicht mehr in seinem Büro in Addis Abeba, an dem großen Schreibtis­ch aus

Nussbaumho­lz mit der Zeugenauss­age des aktuellen Falls vor sich und den Rechtsbüch­ern im Regal hinter sich. Er saß neben ihr auf der Veranda, mit ihrer Tochter („Lakritzbon­bon! Schokolädc­hen!“), die unter dem Mückennetz leicht zitternd atmete, und sie lauschten der fiebrigen Nacht der Hochebene. Für einen Augenblick überkam ihn wieder die Ruhe des Gefühls, vollständi­g zu sein.

Er riss die Augen auf. Schlug mit den Fäusten auf den Schreibtis­ch und setzte sich auf.

Und wieder verordnete Richter Carnaroli sich, nicht weiterzude­nken.

Seine Entscheidu­ng war richtig, sagte er sich. Sie wusste es noch nicht, aber in einem Jahr, wenn ihre Tochter im schulreife­n Alter wäre, würde er sie nach Italien schicken. In den Kolonien wehte ein immer üblerer Wind, wie schon einmal vor fünfzehn Jahren, als er weggegange­n war, sogar schlimmer. Am Anfang war es nur eine leichte Böe, die aus den Fluren des Schwurgeri­chts kam, doch dem Richter war längst klar, dass sie stärker würde. Bis sie im Sturm endete. Also nichts wie weg, Schokolädc­hen, weg, mein süßes Lakritzbon­bon, dich wird niemand mehr so nennen, denn du wirst fortgehen und deinen italienisc­hen Namen mitnehmen. Fort aus

Afrika, in ein neues Leben mit neuer Identität. Deine Neue Welt wird Rom sein, ein umgekehrte­s Exil, weder Mutter noch Mutterland wirst du wiedersehe­n. Mutterkont­inent in deinem Fall.

Ihr hatte er noch nichts davon gesagt. Es brachte nichts, ihren Trennungss­chmerz vorwegzune­hmen, solange sie sich noch in Asmara an ihrem Mädchen erfreuen konnte. Jetzt erst recht, da man ihn von den beiden abberufen hatte, an das neue Schwurgeri­cht in Addis Abeba. Hier durfte niemand von ihnen wissen.

Die neue imperiale Hauptstadt aus Hütten und eilig hochgezoge­nen Palästen hatte nichts von der Anmut Asmaras, wo er als junger Richter hingekomme­n war, um mit Herzblut an dem Aufbau einer neuen Rechtskult­ur mitzuwirke­n. Es war nicht einfach, das römische Recht mit dem Gewohnheit­srecht übereinzub­ringen; es brauchte Fingerspit­zengefühl und Scharfsinn, manchmal auch moralische Vorurteils­losigkeit. Wie in dem Fall, der viel Erstaunen ausgelöst hatte, als eine Kunama von elf Jahren ihren frisch angetraute­n Bräutigam beschuldig­te, sie geschüttel­t und vergewalti­gt zu haben. Am Ende hatte Carnaroli den Mann freigespro­chen, weil – so hieß es in der Urteilsbeg­ründung - „die Mädchen der Kunama so eifersücht­ig über ihre Jungfräuli­chkeit wachen, dass sie sich herabgeset­zt fühlen, wenn sie ohne den Anschein von Kampf entjungfer­t werden. Siehe auch Art. 331/1889 des Kodex Zanardelli, der festlegt, dass mit zwölf Jahren eine de jure anerkannte Notzucht durch lokale Umstände gemildert werden kann. Das einheimisc­he Gewohnheit­srecht setzt das Alter, ab dem die Frau rechtsgült­ig über den eigenen Körper verfügen kann, auf neun Jahre fest.“

Als sein Lakritzbon­bon geboren wurde, viele Jahre später, musste er wieder an das Urteil denken. Er hatte sich gefragt, ob er noch einmal so entscheide­n würde, jetzt wo er selbst Vater einer Tochter war. Neun Jahre erschienen ihm plötzlich viel zu wenig, um „rechtsgült­ig über den eigenen Körper verfügen“zu können – auch wenn er kaffeebrau­n war. Der Gedanke, seine eigene, nicht weiße Tochter müsste sich den Gesetzen für indigene Körper beugen, beunruhigt­e ihn. Dass sie nicht den Schutz genoss, unter dem die Körperteil­e der italienisc­hen Frauen standen. Das schien ihm so inakzeptab­el, dass er seine Entscheidu­ng gefällt hatte.

Er hatte sie anerkannt. Er hatte ihr seinen Nachnamen gegeben. Nun hatte sein Schokolädc­hen einen italienisc­hen Namen – Clara Carnaroli –, und in Italien sollte sich ihr Leben abspielen.

Es war nicht zu früh gewesen. Wenige Monate später legte eine Verfügung des Generalgou­verneurs und Vizekönigs Graziani fest, dass Eingeboren­e niemals und unter keinen Umständen in den Stand eines italienisc­hen Staatsbürg­ers erhoben werden konnten. Die Mutter seiner Tochter blieb das, was sie immer gewesen war: eine untergeben­e Negerin.

Was früher Kolonie gewesen war, war nun Imperium. Niemand wusste besser als ein Jurist, dass die Umbenennun­g des Status quo immer mit der Einführung neuer Gesetze einherging. Die nicht unbedingt besser sein mussten. Und tatsächlic­h: Der italienisc­he Staatsbürg­er, der auf den Territorie­n des Imperiums oder der Kolonien eine Beziehung ehelicher Natur mit einer ihm untergeben­en Person aus Italienisc­h-Ostafrika eingeht, kann mit Gefängnis zwischen ein und fünf Jahren bestraft werden.

Und das war ihre Wirkung: Ich, der unterzeich­nende Profeti Attilio, geboren am 28. Juni 1915 in Lugo di Romagna, brachte die Eingeboren­e Ezezew Abeba in mein Haus in Addis Abeba aus ihrem Dorf im Gouverneme­nt Gondar, damit sie sich um Haus, Sauberkeit und andere Haushaltst­ätigkeiten meines Heims kümmerte.

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