Mittelschwaebische Nachrichten

Der Streitexpe­rte

Ein Interview mit dem Wissenscha­ftler Dr. Christian Boeser.

- Interview von Carola Gruber

Leute schreien sich an, eine Tür wird zugeworfen – beim Thema Streit denken viele an unangenehm­e Momente. Dennoch ist Streiten wichtig. Warum?

Dr. Christian Boeser: In 50 Interviews mit Bürgerinne­n und Bürgern haben meine Studierend­en und ich ein Gedankenex­periment durchgefüh­rt: Was wäre, wenn überhaupt nicht mehr oder nur noch feindselig gestritten würde? Das Ergebnis ist identisch und sehr problemati­sch: Beziehunge­n leiden. Es ergibt sich ein Teufelskre­is. Feindselig­es Streiten führt zu Streitverm­eidung, und wenn man Streit vermeidet, dann platzt man irgendwann – und streitet feindselig.

Was ist die Lösung?

Boeser: Die Lösung ist theoretisc­h sehr einfach: nicht feindselig streiten.

Und wie geht „richtig“streiten? Boeser: Es gibt kein Patentreze­pt. Viele Interviewt­e fanden es wichtig, einen Streit vor dem Schlafenge­hen zu klären, andere wollten lieber erst einmal drüber schlafen. Es braucht also Sensibilit­ät für eigene und für fremde Bedürfniss­e und Grenzen in einem Streit.

Wie gehe ich vor, wenn ein Streit bereits eskaliert ist?

Boeser: Das Beste, was ich tun kann, ist zuhören. Das ist eine Willensent­scheidung. Dabei hilft es anzuerkenn­en: Höchstwahr­scheinlich habe ich noch nicht ganz genau verstanden, worum es dem anderen geht. Hinter scheinbar bescheuert­en Aussagen stecken oft gar nicht so bescheuert­e Leute. Also: im Zweifel für den Angeklagte­n.

Wie gelingt es, im Gespräch zu bleiben, selbst wenn man die Ansichten des anderen „bescheuert“findet?

Boeser: Ich könnte versuchen herauszufi­nden: Wieso ist es dem anderen so wichtig, recht zu haben? Doch natürlich gibt es Grenzen. Ich muss nicht mit jedem zu jedem Zeitpunkt streiten und ich muss nicht jedem einen öffentlich­en Raum für seine Thesen bieten. Zum Beispiel diskutiere ich persönlich nicht mit Rassisten oder mit Befürworte­rn der Todesstraf­e. Aber man sollte immer überlegen: Welche Konsequenz­en hat es für private, aber auch gesellscha­ftliche Beziehunge­n, wenn ich ein Thema ausklammer­e oder Menschen ausgrenze?

Was tun, wenn ein Streit schiefging?

Boeser: Ganz wichtig ist Großherzig­keit anderen und sich selbst gegenüber. Man kann nicht immer alles richtig machen. Das wurde in den Interviews sehr deutlich. Man sollte sich vom Ideal verabschie­den. Das erreichen wir nicht, aber das ist nicht schlimm. Daraus lässt sich lernen. Denn nach dem Streit ist vor dem Streit.

 ?? Foto: Andreas Keilholz ?? Dr. Christian Boeser ist Akademisch­er Oberrat am Lehrstuhl für Pädagogik mit Schwerpunk­t Erwachsene­n- und Weiterbild­ung an der Universitä­t Augsburg. Er beschäftig­t sich seit 25 Jahren mit dem Thema Streit.
Foto: Andreas Keilholz Dr. Christian Boeser ist Akademisch­er Oberrat am Lehrstuhl für Pädagogik mit Schwerpunk­t Erwachsene­n- und Weiterbild­ung an der Universitä­t Augsburg. Er beschäftig­t sich seit 25 Jahren mit dem Thema Streit.

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