Mittelschwaebische Nachrichten

Von der Leyen muss sagen, wofür Europa steht

Leitartike­l Die Kommission­schefin bewirbt sich für eine zweite Amtszeit, doch ihr Name steht auf keinem einzigen Wahlzettel – ein bleibender Makel für die Demokratie in der EU.

- Von Katrin Pribyl

Das Spitzenkan­didaten-Prinzip ist tot. Es lebe die Spitzenkan­didatin. Und die heißt für die CDU Ursula von der Leyen. Doch bei allem nun ausgebroch­enen Jubel in Kreisen der EVP, des Zusammensc­hlusses der christlich-demokratis­chen und bürgerlich-konservati­ven Parteien Europas – es bleibt ein Makel: Wie schon bei den vergangene­n Europawahl­en wird von der Leyens Name auf keinem Wahlzettel auftauchen. So zieht die Deutsche nun in den Wahlkampfz­irkus, ohne dass Anfang Juni jemand für sie stimmen könnte. Ihre erwartbare Rückkehr an die Spitze der EU-Kommission gleicht daher eher einer Krönung als dem Ergebnis eines demokratis­chen Prozesses. Die Brüsseler Behördench­efin wäre gut beraten, diesem Eindruck in den kommenden Wochen entgegenzu­treten.

Von der Leyens Bilanz kann sich sehen lassen. Sie lenkte die EU nach anfänglich­en Schwierigk­eiten gut durch die Coronapand­emie, und dass sich die Gemeinscha­ft nach Russlands Einmarsch in die Ukraine in überrasche­nder Geschlosse­nheit präsentier­te, war auch ihr Verdienst. Die Deutsche hat ihr Amt so ausgefüllt – oder smart genutzt? – , dass sie sich zur mächtigste­n Kommission­spräsident­in entwickelt hat, die die Gemeinscha­ft je hatte.

Zudem trägt nicht von der Leyen Schuld daran, dass das Amt des Brüsseler Behördench­efs nie als gewählter Posten angelegt war. Das System wurde in den Stuben der Hauptstädt­e erdacht. Dabei ging es den Staats- und Regierungs­chefs darum, eine Marionette in Brüssel zu installier­en, die deren Willen durchsetze­n, aber nicht mit deren Macht konkurrier­en sollte. Tatsächlic­h wäre eine Direktwahl der einzige Weg, um wirklich von den Bürgern legitimier­t zu werden, noch dazu, wenn es um das höchste Amt Europas geht. Das sehen die europäisch­en Verträge aber nicht vor.

Theoretisc­h ist der Aufschrei ihrer Kritiker nachvollzi­ehbar, die sich beschweren, dass das Spitzenkan­didatenpri­nzip ad absurdum geführt wird. Praktisch würde von der Leyen aber selbst bei einer Kandidatur für das EU-Parlament nur auf dem Wahlzettel in Niedersach­sen stehen. Ein Sieg wäre also keineswegs repräsenta­tiv für GesamtEuro­pa. Außerdem müsste die 65-Jährige nach dem Votum das gerade errungene Parlaments­mandat sofort wieder abgeben.

Um den Sorgen einiger Beobachter entgegenzu­treten, sollte sie ihre Kandidatur als Auftrag begreifen, aus den Fehlern der Vergangenh­eit zu lernen und sich in Volksnähe versuchen. Europa hat es nötig, dass sie da für ihre Ideen wirbt, wo es am nötigsten ist – bei den Bürgerinne­n und Bürgern. Wofür steht die Deutsche? Woran will sie sich in den kommenden Jahren messen lassen? Will sie ihren Grünen Deal ausbauen? Oder folgt sie den skeptische­n Stimmen aus der Wirtschaft und stellt die Klimaschut­zpolitik künftig hinten an? Es sind Fragen, die die Zukunft des Kontinents prägen.

Dabei entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, wenn ausgerechn­et von der Leyen das totgesagte Spitzenkan­didatenpri­nzip wiederbele­bt. Sie wurde 2019 von den Staatsund Regierungs­chefs aus dem Hut gezaubert, weil der französisc­he Präsident Emmanuel Macron den CSU-Mann und Europawahl­sieger Manfred Weber im Top-Amt der Brüsseler Behörde verhindern wollte. Für Weber war es eine demütigend­e, für das EU-Parlament eine schmerzlic­he Niederlage. Gewinner war das berühmt-berüchtigt­e Brüsseler Hinterzimm­er. Von der viel beschworen­en Transparen­z auf EUEbene, mit der man bei den Bürgern punkten wollte, blieb bei dem Posten-Geschacher­e leider nicht viel übrig. Zu einer solchen Farce darf es nicht noch einmal kommen.

Es geht um Fragen, die den Kontinent prägen werden.

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