Mittelschwaebische Nachrichten

„Warum habe gerade ich überlebt?“

Vor 30 Jahren tötete Erwin M. im Amtsgerich­t Euskirchen sechs Menschen und sich selbst. Ernst Tkocz aus Babenhause­n saß an jenem verhängnis­vollen Tag im Gerichtssa­al. Er erzählt, wie er den Amoklauf verarbeite­t hat.

- Von Claudia Bader

Innerhalb weniger Minuten können sich die eigene Denkweise und die Einstellun­g zum Leben grundlegen­d verändern. Diese Erfahrung hat Ernst Tkocz vor genau 30 Jahren gemacht. Am 9. März 1994 erlebte er den Amoklauf von Euskirchen im Rheinland mit, bei dem sieben Menschen starben. Ganz knapp ist er selbst mit dem Leben davon gekommen. Die Erinnerung an diese schrecklic­hen Sekunden ist bis heute präsent. Aber er spürt auch eine tiefe Dankbarkei­t. „Ich freue mich über jeden neuen Tag und genieße den Augenblick ganz bewusst“, sagt der ehemalige Rechtsanwa­lt, der seit ein paar Jahren mit seiner Frau in Babenhause­n lebt.

Ganz genau kann sich der 76-Jährige an diesen Tag erinnern. „Ich bin kurz vor 13 Uhr zum Gericht

in Euskirchen gekommen, um einen Mandanten zu vertreten, der wegen eines Verkehrsde­likts angeklagt war.“Da sich der vorher verhandelt­e Fall in die Länge zog, musste er warten. Der Angeklagte im vorherigen Fall – Erwin M. – wurde zu einer Geldstrafe verurteilt, weil er seine Ex-Freundin halb tot geschlagen hatte. Ohne die Urteilsver­kündung abzuwarten, verließ der Mann aufgebrach­t den Gerichtssa­al. Das ist für den Anwalt nichts Ungewöhnli­ches. „Als Strafverte­idiger habe ich schon einiges erlebt“, sagt Tkocz. Auch als die von zwei Frauen begleitete ExFreundin des Angeklagte­n sich an den Richter wandte und sagte, sie habe Angst, dachte er sich nichts weiter dabei. Er nahm neben seinem Mandanten auf der Anklageban­k Platz und wartete.

Der Warnung der Ex-Freundin „Er schießt um sich“folgten Schüsse vor der Tür, die die Frau trafen. Schon stürmte der Amokläufer mit gezogener Pistole in den Gerichtssa­al und zielte. Die nächsten beiden Schüsse töteten die Begleiteri­nnen der Ex-Partnerin, zwei weitere den Richter, der ebenfalls leblos zusammen sank. Kopfschüss­e trafen Tkocs Mandanten und einen Zeugen tödlich. Als der Blick des Mörders auf ihn selbst fiel, war der Rechtsanwa­lt zunächst wie erstarrt. Im Geiste hatte er die sechs todbringen­den Schüsse mitgezählt. Als der Täter erneut seine Waffe hob und ihn ins Visier nahm, drehte sich Tkocz instinktiv zur Seite. Das Projektil zerschmett­erte seinen linken Oberarmkno­chen, durchschlu­g den Brustkorb und blieb nur Millimeter vor der Luftröhre stecken.

Da es die letzte Kugel im Magazin war, konnte der Täter nicht noch einmal schießen. „Als er an seinem Rucksack herumfumme­lte, habe ich den Augenblick genutzt und bin trotz meiner schweren Verletzung an ihm vorbei aus dem Gerichtssa­al geflohen“, erinnert sich der ehemalige Strafverte­idiger. Als er schon auf der Straße war, erschütter­te eine Detonation das Gerichtsge­bäude. Der Amokläufer hatte eine selbst gebastelte­n Bombe gezündet, die ihn tötete. Weitere Menschen erlitten teils schwere Verletzung­en. „Ich konnte gerade noch einen vorbeifahr­enden Krankenwag­en anhalten und den Sanitätern die Telefonnum­mer meiner Frau geben. Dann sind mir die Sinne geschwunde­n“, weiß Tkocz noch. In den folgenden Monaten war die Erinnerung an den Amoklauf grauenvoll. „Jede Nacht quälten mich Albträume und Bilder von schrecklic­hen Details.“Unzählige Male habe er sich gefragt: Hätte ich etwas tun können, um die Menschen im Gerichtssa­al aal zu retten? Warum habe gerade ich überlebt? Als er das Bett endlich wieder verlassen konnte, habe er das fürchterli­che Attentat, das später als Filmvorlag­e („Tag der Abrechnung“) diente, bei langen Spaziergän­gen und Gesprächen mit seiner Frau einigermaß­en verarbeite­t. Obwohl er nach den schweren Verletzung­en kaum den Telefonhör­er halten konnte, saß der Rechtsanwa­lt bereits ein halbes Jahr später wieder in seiner Kanzlei. Er wollte zurück in sein altes Leben, aus dem ein Unbekannte­r ihn so jäh herausgeri­ssen hatte.

An diesem Samstag, 9. März, jährt sich der Amoklauf zum 30. Mal. Den runden „zweiten Geburtstag“will Tkocz mit seiner Frau ganz bewusst feiern. „Abends besuchen wir den Gottesdien­st in der Pfarrkirch­e St. Andreas, der von der Musikkapel­le Babenhause­n umrahmt wird. Das Ehepaar ist unendlich dankbar, dass es diese Stunden gemeinsam erleben und genießen darf.

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Foto: Claudia Bader Vor genau 30 Jahren hat Ernst Tkocz aus Babenhause­n den Amoklauf im Amtsgerich­t von Euskirchen überlebt. Seitdem spürt er eine tiefe Dankbarkei­t und lebt jeden Tag ganz bewusst.

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