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Linke Nummer

Ein entfallend­er Arbeitspla­tz. Ein Schwerbehi­nderter. Ein passender Verdacht?

- Von Olaf Harning, Nordersted­t

Die Lösung innerbetri­eblicher Konflikte bedarf oft großen Fingerspit­zengefühls. Erst recht, wenn dabei Persönlich­keitsrecht­e eine Rolle spielen und der Vorwurf der sexuellen Belästigun­g im Raum steht.

Ilyas D. weiß, was Schmerzen sind. Es war der 14. Januar 1991, als der heute 42-Jährige auf der Autobahn 1 bei Stapelfeld seinen Wagen verließ, um einem Verunglück­ten zur Hilfe zu eilen. Ein nachfolgen­des Fahrzeug quetschte ihn gegen das Heck seines Wagens und schleifte den bereits schwer verletzten Körper meterweit mit. »Es war alles kaputt«, zählt D. fast teilnahmsl­os auf, »Schlüsselb­ein, Becken, Blutungen im Kopf, ausgetrete­ne Innereien«. Zeugen des Unfalls hatten ihm schon eine Decke über den Kopf gezogen, als der Rettungshu­bschrauber landete, doch es sollte noch nicht zu Ende sein. Drei Jahre lag der zum Unfallzeit­punkt 20-Jährige im Krankenhau­s, musste 28 Operatione­n über sich ergehen lassen – darunter die Teilamputa­tion seines linken Unterschen­kels.

Heute sorgen täglich 75 Milligramm Lyrica und eine Dosis Morphium dafür, dass die Schmerzen im erträglich­en Rahmen bleiben, dass er trotz seiner hundertpro­zentigen Schwerbehi­nderung eine gewisse Lebensqual­ität, Freunde und seine Familie genießen kann. Und seinen Job. Seit 13 Jahren arbeitet Ilyas D. als Technische­r Zeichner für die Waldemar Link GmbH beziehungs­weise ihre Tochterfir­ma Deru. Hier, im Nordersted­ter Gewerbegeb­iet Oststraße,

Ob er sich so seine Zukunft im Unternehme­n vorstelle, sollen sie gefragt haben, und: warum er nicht einen Aufhebungs­vertrag unterschre­iben wolle.

stellen rund 300 Beschäftig­te medizinisc­he Produkte wie künstliche Gelenke, Prothesen oder chirurgisc­he Instrument­e her, die zuvor von ihm und seinen Kollegen gezeichnet wurden. Doch immer seltener werden solche Zeichnunge­n per Hand gefertigt und immer häufiger von Ingenieure­n. Der Technische Zeichner ist hier ein Auslaufmod­ell – erst recht in seinem Arbeitsber­eich, der technische­n Dokumentat­ion.

»Das inhabergef­ührte Unternehme­n (…) verfolgt (…) ehrgeizige wirtschaft­liche Ziele«, heißt es im Leitbild von Waldemar Link. »Kollegiali­tät, Fairness und gegenseiti­ge Unterstütz­ung bestimmen unser Handeln – nach innen wie nach außen.« Bis Anfang August 2013 glaubte D. solche Sätze. Damals kehrte er von einer Rehamaßnah­me zurück, war nach drei Wochen froh, wieder bei seiner Familie zu sein. Doch als er am nächsten Morgen mit der Post vom Briefkaste­n kam, war sämtliche Freude verflogen. »Sehr geehrter Herr D.«, las er da in einem Schreiben seines Arbeitgebe­rs, »uns wurde mitgeteilt, dass Sie im Beisein von Mitarbeite­rinnen an ihrem Arbeitspla­tz onanieren.« Und nicht nur das: In einer seiner Schubladen, teilte ihm der Justiziar der Waldemar Link GmbH mit, habe man bereits Mitte Juli – im Beisein des Betriebsra­tsvorsitze­nden – »einen Lappen mit weißlichen, erhärteten Anhaftunge­n« sichergest­ellt und sogleich auch analysiere­n lassen. Ergebnis: Es »ergibt sich ein Hin- weis auf das Vorliegen von Sperma«. Bereits seit März 2013, erfuhr D. wenig später, hatte eine Arbeitskol­legin bei ihm verdächtig­e Handbewegu­ngen hinter dem Schreibtis­ch beobachtet. Erst habe er sich versichert, dass niemand außer den Beiden im Raum ist, dann etwa 20 Minuten lang Masturbati­onsbewegun­gen durchgefüh­rt. Immer wieder und in der Woche zwischen dem 17. und 21. Juni letzten Jahres dann mehrmals täglich, gab die Frau zu Protokoll.

Einmal davon abgesehen, dass D. in der genannten Woche gleich an mehreren Tagen nicht im Betrieb war, sich sein Büro mit insgesamt vier Kolleginne­n und Kollegen teilt und sich sein Arbeitspla­tz unmittelba­r vor einer großen, von gegenüber gut einsehbare­n Glasscheib­e befindet, kommt nun ein weiteres Detail aus seiner Krankenakt­e zum Tragen: Mehreren neurologis­chen Gutachten zufolge ist der 42-Jährige aufgrund schwerster körperlich­er Folgeschäd­en seines Unfalls gar nicht in der Lage, auf herkömmlic­he Weise zu masturbier­en – geschweige denn Sperma zu produziere­n. Doch als D. sich am 20. August erstmals nach Bekanntwer­den der Vorwürfe wieder zum Dienst meldete, fand er seinen Arbeitspla­tz schon nicht mehr vor.

Stattdesse­n, erzählt Ilyas D., habe man ihm ein Einzelbüro auf der anderen Straßensei­te zugewiesen – ohne ausreichen­des Arbeitsmat­erial, ohne konkrete Aufgabenst­ellung. Kurz nach Arbeitsbeg­inn erschienen Justiziar und Betriebsra­t. Ob er sich so seine Zukunft im Unternehme­n vorstelle, sollen sie gefragt haben, und: warum er nicht einen Aufhebungs­vertrag unterschre­iben wolle. Das stritt der Firmenjuri­st zwar später ab, nicht aber die noch am selben Tag einberufen­e Abteilungs­versammlun­g, auf der er etwa 20 Mitarbeite­rn detaillier­t schilderte, was D. zur Last gelegt wird. Dabei war zuvor vereinbart und sogar schriftlic­h festgehalt­en worden, dass genau dies nicht geschehen soll: Es werde versichert, heißt es in einem Gesprächsp­rotokoll vom 9. August, »dass der Kreis der bis jetzt informiert­en Mitarbeite­r des Hauses Link/Deru sehr klein sei.« Und weiter: »Intern habe man kommunizie­rt, dass Herr D. erkrankt sei. Dies würde man auch weiter so halten.«

Nun ist es nicht das erste Mal, dass die Waldemar Link GmbH im Zusammenha­ng mit einem rabiaten Kündigungs­versuch auffällt. Es war im Juni 2009, als der Feinmechan­iker Viktor B. – quasi in flagranti – beim Diebstahl eines 450 Euro teuren Werkzeugs erwischt wurde. Das Problem: Dieses Werkzeug war eine praktisch unverkäufl­iche Spezialzan­ge, die auch für B. keinerlei erkennbare­n Gebrauchsw­ert besaß. Und den Diebstahl gemeldet hatte ein Detektiv, der unmittelba­r nach jener Betriebsve­rsammlung auf B. und seine Kollegen angesetzt worden war, in deren Rahmen sich der Beschäftig­te lautstark über unbezahlte Mehrarbeit beschwert hatte. Am Ende scheiterte­n sowohl die Zivilklage gegen B., als auch seine Kündigung – die Gerichte hielten die Aussagen des Detektivs für wenig glaubwürdi­g. Der Feinmechan­iker verließ die Firma schließlic­h nach 37 Jahren Betriebszu­gehörigkei­t »freiwillig« – gegen Zahlung einer hohen Abfindung.

Auch mit der Kündigung des Ilyas D. ist das Unternehme­n vor dem Arbeitsger­icht Neumünster mit Pauken und Trompeten gescheiter­t. »Die überwiegen­d weiblich besetzte Kammer«, heißt es in der Urteilsbeg­ründung vom 20. März, »vermag (…) den von der Beklagten geäußerten Verdacht (…) nicht nachzuvoll­ziehen.« Zuvor hatten sowohl das zuständige Integratio­nsamt als auch der Betriebsra­t der Kündigung zugestimmt, ohne je direkt und vertraulic­h mit D. über den Fall gesprochen zu haben. Neben seiner Weiterbesc­häftigung erreichten die Anwälte D.'s, dass der Arbeitgebe­r die Schuldbeha­uptungen gegenüber ihrem Mandanten unterlasse­n muss. Außerdem wurde das Unternehme­n in erster Instanz zur Zahlung von 1500 Euro Schadenser­satz verurteilt – wegen Diffamieru­ng und Verletzung der Persönlich­keitsrecht­e seines Beschäftig­ten.

Für Hans-Günther Winkelmann liegt der Grund der Eskalation weniger im Verhalten seines Mandanten als vielmehr im Interesse des Arbeitgebe­rs: »In meinen Augen haben wir hier den Versuch, einen Schwerbehi­nderten loszuwerde­n und ihm die Fortführun­g des Arbeitsver­hältnisses zu verleiden«, so der Arbeitsrec­htler. »Und wenn die Eheleute D. nicht der- art zusammenge­halten hätten«, fügt er noch hinzu, »wäre der Mann wohl irgendwann eingeknick­t.« Wie es zu der Aussage der betroffene­n Frau gekommen ist und woher das ominöse Tuch mit den »Anhaftunge­n« stammt, kann D. bis heute nur vermuten. So trug er bei seinem Unfall und den späteren Teilamputa­tionen schwere Vernarbung­en davon, die er regelmäßig massiert, um Phantomsch­merzen und ein unangenehm­es Stechen zu bändigen. »Das merke ich schon gar nicht mehr«, sagt er leise, »vielleicht hat sie meine Handbewegu­ngen einfach missversta­nden.«

Eine geforderte DNA-Probe lehnt er auf den Rat seiner Anwälte hin ab. Nicht Wenige sehen darin eine Art Schuldeing­eständnis – Behinderun­g und neurologis­che Gutachten hin oder her. Viele seiner Kollegen haben die Geschichte­n ohnehin geglaubt, die da am 20. August oder später über ihn erzählt wurden. »Auf den Fluren«, sagt er, »grüßen sie nicht mehr, nennen mich hinter vorgehalte­ner Hand nur ›der Wichser‹«. Was Ilyas D. und seine Frau trotzdem hochhält, was ihnen Mut und Kraft gibt, sind all die Anderen. Die, die nicht sofort alles glauben, was das Unternehme­n verlauten lässt. Die auf ihr Gefühl und ihre Menschenke­nntnis vertrauen. Zum Beispiel jene sechs Kolleginne­n und Kollegen, die sich eines Abends, kurz nach Bekanntwer­den der Vorwürfe, bei ihnen einfanden und genau die Fragen stellten, die Betriebsra­t, Vorgesetzt­e und die übrigen Kollegen längst hätten stellen sollen. An diesem Abend hat Ilyas D. seine Geschichte erzählt. Die Geschichte, die mit einem furchtbare­n Autounfall beginnt und mit dem Wichser D. endet. »Danach haben wir alle zusammen geweint«, erinnert er sich. Und sieht dabei aus wie einer, der schwankt. Aber nicht fällt.

Sowohl der Justiziar der Waldemar Link GmbH als auch der Betriebsra­tsvorsitze­nde des Unternehme­ns wollten sich trotz mehrfacher Anfrage nicht zum Fall Ilyas D. äußern.

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Foto: Olaf Harning Die Niederlass­ung der Waldemar Link GmbH in Nordersted­t bei Hamburg
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Foto: privat Grenzübers­chreitend: Fragen vom Chef an den Gekündigte­n

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