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Hilfe oder stumpfes Schwert?

Zum Kündigungs­schutz für Schwerbehi­nderte

- Von Olaf Harning

Ein schwerbehi­nderter Angestellt­er, der am Arbeitspla­tz masturbier­t und damit eine Kollegin belästigt haben soll. Ein Arbeitgebe­r, der diesen Verdacht schnell als Wahrheit wertet und dem Beschuldig­ten kündigt. Ein Fall für seichte Gemüter ist er nicht gerade, der Konflikt, den Ilyas D. und sein Arbeitgebe­r ausfechten. Eher einer, der Fragen aufwirft – zum Beispiel die, warum dem 42-Jährigen überhaupt so einfach gekündigt werden konnte?

Denn grundsätzl­ich genießen Schwerbehi­nderte in Deutschlan­d einen besonderen Kündigungs­schutz, der im Sozialgese­tzbuch (SGB) IX geregelt ist. Er greift nach sechsmonat­iger Betriebszu­gehörigkei­t und zwar für alle Arbeitnehm­er, die einen Grad der Behinderun­g von mindestens 50 aufweisen oder dieser Gruppe nach Paragraf 68 SGB IX gleichgest­ellt sind. Kern des Kündigungs­schutzes ist die verpflicht­ende Anhörung des zuständige­n Integratio­nsamtes, einer Behörde, deren Job die Sicherung der Integratio­n von Behinderte­n im Arbeitsleb­en ist. Wird einem Schwerbehi­nderten gekündigt, ohne dass das Integratio­nsamt angehört wurde, ist die Kündigung unwirksam – unter Umständen selbst dann, wenn der Arbeitgebe­r nichts von der Behinderun­g wusste.

Kehrseite dieses Schutzes sind die relativ übersichtl­ichen Befugnisse der Integratio­nsämter: Sie sollen zwar den jeweiligen Sachverhal­t einer Kündigung klären, dafür im Regelfall Stellungna­hmen des Betroffene­n, des Arbeitgebe­rs, des Betriebsra­ts oder auch einer Schwerbehi­ndertenver­tretung einholen. Wirkungsvo­ll ablehnen aber kann die Behörde eine Kündigung in der Regel nur, wenn deren Begründung in engem Zusammenha­ng mit der jeweils anerkannte­n Behinderun­g steht. Im Fall des Ilyas D. wurde das vom zuständige­n Integratio­nsamt kurzerhand verneint, der Kündigung zugestimmt. Und das ist keinesfall­s die Ausnahme: Genau 25 808 Kündigunge­n von Schwerbehi­nderten hatten die Integratio­nsämter nach Angaben des Bundesmini­steriums für Arbeit und Soziales 2012 zu bewerten, davon knapp ein Viertel verhaltens­bedingte Kündigunge­n.

In rund 80 Prozent dieser Fälle stimmte die Behörde der Entlassung am Ende zu, womöglich nicht immer alternativ­los: So verzeichne­t die DGB Rechtschut­z GmbH seit 2010 einen leichten aber stetigen Anstieg der Widersprüc­he von Arbeitnehm­erseite gegen Entscheidu­ngen der Integratio­nsämter. Ein scharfes Schwert, so scheint es, ist der besondere Kündigungs­schutz für Schwerbehi­nderte also nicht gerade. Zumal auch der Arbeitgebe­r ein »Nein« des Amtes vor Gericht überwinden kann. Neben dem Integratio­nsamt können Arbeitnehm­er in größeren Unternehme­n auch auf die Unterstütz­ung der Schwerbehi­ndertenver­tretung hoffen, die in Betrieben gewählt wird, in denen mehr als fünf Schwerbehi­nderte beschäftig­t sind. Allerdings hat auch diese Vertretung bei Kündigunge­n nur wenig Einfluss: So kann sie zwar an allen Versammlun­gen des Betriebs- oder Personalra­ts teilnehmen, hat dort aber lediglich beratende Funktion, kein Stimmrecht.

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