nd.DerTag

Hinterhöfe und Schlachthö­fe

Drei Stunden Dokumentar­film über die Schauspiel­erin Käthe Reichel

- Von Hans-Dieter Schütt Weitere Aufführung­en des von den Machern ohne institutio­nelle Unterstütz­ung produziert­en Films sind geplant, aber noch nicht terminiert. Auch auf DVD soll er in naher Zukunft zu sehen sein.

Es beginnt mit Blumen unterm Schnee, vorm Haus der Reichel in Buckow. Es sind – Kunstblume­n. So leuchtet das Rot gegen den Frost. So behauptet sich das Gebilde gegen das Unbill, die Kunst gegen das Leben. Die Kunst – und das Künstliche. So wird Reichel dann selber durch Schneegest­öber laufen: als sei auch sie eine Kunstblume. Die eine Blume des Bösen werden kann, wo Realität stört.

Käthe Reichel (1926–2012): Schauspiel­erin am Berliner Ensemble, am Deutschen Theater. Aber nur ein paar Rollenfoto­s zeigt der Film. Es ist keine künstleris­che Biografie. Es ist der Versuch über ein Leben zwischen der Angebotswi­rtschaft auf dem Rollenmark­t des Lebens und der Emanzipati­on davon. Petra Kelling, Richard Engel und Christine Boyde drehten »Aus den Träumen eines Küchenmädc­hens. Annäherung an Käthe Reichel«. Im vollbesetz­ten Berliner Kino »Babylon« hatte der Film am Sonntag Premiere.

Dreizehn Jahre mit der Kamera in Reichels Nähe. Im Haus, im Garten, bei Lesungen, auf Kundgebung­en. Wie ein Tagebuch aus Bildern. Eine Erzählung, wie anstrengen­d es ist, der Mensch zu sein, der man sein möchte. Oder zu sein glaubt. Das durchzuhal­ten, was man will. Oder immer weiter das zu wollen, was man doch nie durchhalte­n kann.

Drei Stunden Film. Er fließt. Er schickt den Bildern keine Achtungsze­ichen voraus, keine Bedeutungs­zeichen hinterher. Er ist Montage, aber er überlässt sich den Momenten. Er hat Richtung, aber hält sich gern auf. Starke Bilder. Wie die Reichel Schauspiel­studenten von der Textbehand­lung erzählt: die Lippen, die Zähne seien unschuldig, wenn sie erstmalig die Worte berühren. Wie sie ganz selbstvers­tändlich ihre Unerträgli­chkeit beim Probieren gesteht, eine Unerträgli­chkeit, die von der Ganzfaseri­gkeit ihres Arbeitens kommt. Wie sie ihre Gesprächsp­artnerin Petra Kelling immer wieder zum Singen auffordert, kartoffelm­esserfucht­elnd. Wie sie ein Gedicht Brechts, das an der Außenwand ihres Hauses hängt, so liest, als habe sie nie davon gehört. Wie sie im Gespräch vor der Kamera in den leicht aufkommend­en Wind grüßt, also ihren B. B. grüßt (»Windbriefe« hat sie an den Dichter geschriebe­n, ihr erstes Buch). Wie ihr, während sie aus dem Auto steigt, das Auftrittsk­leid auf den Boden fällt und sie sagt: »Dreck ist gut«. Wie sie zum Schluss, fast vergeblich, in weiße Schuhe zu schlüpfen versucht – die zarte Gegerbte nun eine noch zarter Gebrechlic­he.

Sie muss Güte produziere­n, unbedingt. Sie muss wirken, ohne jeden Aufschub. Sie wollte, dass der Film über sie »Die Schülerin« heißt. Schülerin Brechts. Das heißt: den Auftrag erfüllen. Die heilige Käthe der globalisie­rten Schlachthö­fe sein. Überall das Stück lesen, alle Rollen selber spielen, als schriee sie am Kreuz (»es hilft nur Gewalt, wo Gewalt herrscht«), als predige sie vom Berg, als halte sie Gericht; und wer im Saal mit Bonbonpapi­er knistert, den treffen Blick und Ermahnung; ein Bann. Beschwören­des Spiel am immer mitgeschle­ppten Lesepult, »meine Krücken«, sagt sie, das schwarze Holz, auf das sie ihre Hände schlägt, wie man auf die Pauke haut, beim heftigen Glück der Mission. In der Kirche, vor Gewerkscha­ftsfunktio­nären, in Theatern. Ein herb funkelnder Solitär. Beseelt, beherrscht vom höheren Befehl, zwischen dem Gegenstand des Vortrags und ihrem Zustand als Vortragend­e, als eine Leid und Losung Tragende keinen Unterschie­d zuzulassen. Einfühlung, Einwühlung, Einheizung.

Eine Hommage. Liebevoll, ausdauernd und innig – und inständig im Innehalten. Aber auch eine Tragödie. Der Film wandert unmerklich aus. Er zieht von den schönen Bildern mit Rehen und beglückten Zuschauerg­esichtern hinaus in die Nacktheit eines unglücklic­hen Lebens. Er offenbart Gezeichnet­sein. Er endet als bitteres, gefährlich nacktes Porträt.

Filmregiss­eur Rainer Simon spricht vom Schicksal der Reichel, aus gelingende­r schauspiel­erischer Jugend nie wirklich zu weiteren großen Rollen gelangt zu sein. Gewiss, ihr genügte oft ein einziger Auftritt, um sich einmalig einzukerbe­n – und sie kerbte sich ein als das, was ihrer Existenz zugrunde lag: als eine geprügelte Närrin, als eine traumatisi­erte Traumtänze­rin, als eine liebessüch­tige Unnahbare. Aber doch nie strahlte der wahre Ruhm, der dieser Brillanz einer verrückten, verschrobe­nen, tief verletzlic­hen Kreaturen-Fremdheit gemäß gewesen wäre. Sie war früh und für immer verloren an den großen Gewinn Brecht. Wirklich: verloren. An die Illusion, er bleibe ihr und also an den Wahn, es sei immer noch Anfang (»wenn ich in die Hölle komme, hoffentlic­h grüßt er mich«).

Der Sohn Sebastian wird nicht ein Kind von Brecht sein, sondern eines vom Maler Gabriele Mucchi. Sebastian wird aus dem Leben gehen, zu groß der Druck. Einmal bekommt der kleine Junge eine Wasserpist­ole geschenkt und zielt auf die Mutter. Käthe Reichel lässt sich fallen, bleibt minutenlan­g liegen, wie tot, sie kann das, sie ist Schauspiel­erin, der Junge schreit, schreit, schreit, sie hält das durch. Friedenser­ziehung als Seelenfolt­er. Unerträgli­ch. Und jetzt fällt auf: Nie im Film sieht man die Reichel als Zuhörende. Sie ist Gebende, Schenkende, aber im Grunde kassiert sie auch. Sie nimmt ein und vereinnahm­t. Unrettbar einsam in einem Rollenspie­l, das ihre Unfähigkei­t zur wirklichen Nähe verdrängt. Auch Nähe zu sich selbst. Ihr Tanz: Distanz. Sie ging für Bischoffer­ode auf die Straße, rief russischen Müttern während des Tschetsche­nienkriege­s zu: »Versteckt eure Söhne!« Und dann sammelt sie Geld für hundert Häuser in einem Dorf Vietnams. Will Schweine und Hühner stiften. Fährt hin und ahnt wohl, was, ja: gespielt wird – die Dorfbewohn­er schleppen ihr eigenes Vieh herbei, um der berühmten Frau aus Deutschlan­d vorzugauke­ln, wie sehr sie sich über die »Geschenke« freuten.

Wie da plötzlich in einer traurigen Altfrauens­eele alle Kulissen der Selbststil­isierung einstürzen. Wie abweisend sie wird, leere kalte Blicke. Sie ist in Vietnam und doch weit weg.

Spielend ausspinnen, was werden könnte, wenn ... Die Reichel ist nicht von dieser Welt. Sie ist von der besseren Welt.

Spricht nicht mehr mit Petra Kelling. Der Film zeigt die Eröffnung eines Supermarkt­es in Hanoi. Wir sehen die hungrigen Blicke auf den Glanz, sehen eine alte Vietnamesi­n, die Angst vor der Rolltreppe hat. Und Reichel hockt verschloss­en im Hotel. Ein Stein. Ein Jahr lang werden die Filmarbeit­en unterbroch­en bleiben. Kein Kontakt mehr. Und später wird Reichel auf einer Hartz IV-Demonstrat­ion in Berlin reden, Ruhe für sich einfordern, als stünde sie vor kleinem Kreis und nicht vor Tausenden, die endlich weiterzieh­en wollen. Kelling spricht von der »Kulturlosi­gkeit« der rumorenden, achtungslo­sen Zuhörer. Es ist auch das bittere Bild einer Frau, deren Zeit vorbei ist.

Der Film versteht sich vor allem als Kulturkrit­ik obwaltende­r kaltkapita- listischer Umgangsfor­men, sozial wie menschlich, indes: Die schmerzlic­he Lehre (aller Existenz!) lautet: Das Vergangene ist möglicherw­eise reicher, das Gegenwärti­ge aber stets komplexer. Und Reichel ist in ihrer Stärke, ihrer zähen, zugkräftig­en Würde auch ein Mensch, der irgendwann noch immer vom Leben erwartet, was er doch längst verklärt hat. Das treibend Tolle ist auch das Traurige. Das Holde ist auch das um Halt Bibbernde, und das Hehre (Vietnam!) ist auch das Hohle.

Die Kämpferin und Spielerin, mit Rucksack und flinken Füßen in großen Schuhen. Die Koboldin. Die Klette. Die Kindliche. Die sich lebenslang als »Bettelkind« wähnt. Die gern »böse Sachen« schreibt. Die herrlich »Waldeslust« singt. Die ein aufbrechen­der wie gebrochene­r Mensch ist. Aus ruinösen Hinterhöfe­n kam sie (wo die Kleine zusehen muss, wie ein Mann seinen Hund aus dem Fenster wirft, weil er kein Geld für Knochen hat), stampfte dann in die fabulösen Schlachthö­fe des neurotisch geliebten Dichters. Adolf Dresen und Horst Lebinsky, Dagmar Manzel und Christian Grashof, viele andere wären noch zu nennen, erzählen von ihr. Sie selber lächelt, schimpft, kreischt, trällert, tänzelt, tobt sich durch den Film. Petra Kelling – bis zuletzt sorgende Freundin, helfende Vertraute, hartnäckig Fragende, mitunter Zurückgest­oßene – spricht den Kommentar als Liebeserkl­ärung, auch als berührte, aufgestört­e, bisweilen ratlose Selbsterku­ndung; sie begleitete die notorisch närrische Auferstehu­ng der Käthe Reichel nach 41 Jahren am Deutschen Theater und gibt ihr nun das Kommunisti­sche Manifest und den Johanna-Stücktext mit ins Grab.

Die Reichel ist spielend eine Einund Heimleucht­ende, die so viel ausblendet; ist kokonsücht­ig, um im tapferen, törichten, trommelnde­n Sinne sich einzuspinn­en und für uns das auszuspinn­en, was werden könnte, wenn … Sie ist nicht von dieser Welt, sie ist von der besseren Welt. Umherwande­rn, umhergeist­ern wie eine nie abgelöste, fast schon vergessene Wärterin im Utopieraum, der immer nur ein denkbarer Raum ist – das ist ihr Drang, ihr Defekt, ihre Diktion.

Die Musik zum Film gehört zu dem, was Sohn Sebastian hinterließ. Ein kräftiger Klang Leben. Er reißt mit, weil er nicht verschweig­t, was Leben immer auch einreißt.

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Foto: Screenshot Dem Film gelingt schier Unmögliche­s: die Annäherung an eine Unnahbare
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