Der lange Arm von Bitterfeld
E-Books, Selfpublishing, Selbstvermarktung. Wenn die Laienschriftstellerei die Tendenz zeigt, die professionelle zu verschlucken, liegt etwas falsch.
Mauern haben Vorzüge. Sie spenden Schatten, geben allerlei Moosen eine Heimat, gewähren Staaten Schutz vor Feinden, schirmen Siedler gegen ihre Nachbarn ab. Vor allem aber gibt es ohne sie keine Mauerblümchen. In der Tundra fühlte sich nicht mal ein Veilchen klein. Ich rede, wie Sie unschwer bemerkt haben, vom Buchmarkt.
Früher nämlich war alles besser. Hat das vor mir schon mal jemand festgestellt? Früher gewiss, denn da war ja alles besser. Wer weiland ein Buch veröffentlichen wollte, musste über eine Mauer klettern. Das war eine mitunter sinnlose Übung, es kam vor, dass ein Lektor weniger gescheit als der Autor war, dass sein Blick vom Zeitgeschmack getrübt wurde, und auch persönliche Neigungen werden eine Rolle gespielt haben. Aber das System hat auf seine stumpfsinnige und blinde Weise funktioniert. Die eigentliche Aufgabe des Lektors war nie, gute Literatur zu erkennen, sondern schlechte zu verhindern. Er musste dazu nicht das Klassische vom Zeitgenössischen scheiden können und auch nicht zwingend Fachurteil und Urteil des Geschmacks auseinanderhalten. Der Vorgang war genauer, dass einer, der mehr ist als ein Laie und über eine Art Routinewissen verfügt, eine erste Hürde darstellt, die den groben Unfug von dem trennt, was man allererst Literatur nennen kann. Aber das ist nicht mehr.
Auch früher ja hatte die Mauer schon Lücken. Vermögende Leute konnten ihre Texte selbst drucken, und zum Glück hatten die meisten von denen anderes zu tun. Heute sind Unternehmungen im Eigenverlag erschwinglich. Das Selfpublishing drängt zur allgemeinen Erscheinung. Der Lektor hat seine Macht verloren. Die Borniertheit des Experten ist der Borniertheit der Laien gewichen. Möglich wurde das, wie man weiß, durch das E-Book, und ohne Zweifel ist es sinnlos, technischen Neuerungen, die allerlei Vorteile bringen, mit normativen Einwänden zu kommen. Über sie nachdenken hingegen kann man schon.
Das E-Book hat die technische Grundlage geschaffen, die Strukturen der Verlagswelt zu umgehen. Von jeher neigten Autoren ein wenig dazu, sich selbst als alleinige Urheber und den Verleger als denjenigen zu sehen, der sich bloß bereichert. Jetzt können sie mit etwas Übung ihre Dateien in E-Formate konvertieren und bei gewissen Konzernen des Vertriebs anbieten. Auch handwerklich ist da keine Hürde, da das E-Book kaum noch eine Anforderung an die Gestaltung stellt und seine Herstellung näher am Ausfertigen einer Worddatei liegt als an der Einrichtung eines druckfähigen Schriftsatzes. Das Handwerk der Typographie fällt in einer fluiden Fließtextroutine, die Absätze zwar noch kennt, sie aber nimmt, wie sie gerade kommen, ganz in sich zusammen. Die äußerliche Ästhetik des Buchs verschwindet. Wir lernen das nicht bloß selbstgeschriebene, sondern auch selbstgemachte Buch kennen, und es ist genau so, wie wir es uns immer vorstellt haben. Das Buch ohne Eigenschaften.
Entspricht dieser äußeren Nichtigkeit eine innere? Der E-Book-Markt ist danach. In diesem Meer selbstverfasster Ratgeber, zusammengestoppelter Privatreportagen und eher gefühlt als geschriebener Romane, wäre selbst Odysseus ertrunken. Der Autor der »Odyssee«, dieses Buchs der Bücher, könnte heute von Glück sagen, wenn er bei Amazon mehr als zwei Kundenrezensionen erhielte. Wo früher auf neun gedruckte passable Romane einer kam, der trotz hervorragender Eigenschaften keinen Verlag fand, kommen heute auf einen gedruckten passablen Roman neune, die seinerzeit ganz zu Recht nicht gedruckt wurden, es heute aber werden. Sagte ich schon, dass Mauern manchmal was taugen? Hier zeigt sich ein Problem der Moderne überhaupt: Das Ersticken des Einzelnen in der unüberschaubaren Menge der Jetztzeit, was durch die Explosion der Musealität, in der eine Angst vorm Verlust des Bedeutsamen unbewusst bereits verarbeitet ist, keinesfalls gelindert wird, da das Verhältnis von Schund und Klassik immer erst im nachhinein, also dann, wenn die Überlieferung bereits geglückt ist, bestimmt werden kann. Der innere Glaubenssatz der Klassik, dass das Gutgemachte sich durchsetzt, ist ja nicht falsch. Er gilt nur leider ausschließlich unter Laborbedingungen. Nicht gilt er, wenn etwa die Hexameter des Empedokles auf Papyrus zerfallen, weil einfältige Mönche vorziehen – Graecum est, non legitur! –, ihr Pergament mit den Abrechnungen der Kellerei vollzukritzeln. Nicht gilt er auch, wo das Gutgemachte gar nicht erst bekannt wird, weil kein Betrieb gegen die Masse der Ambitionierten seine schlechten, aber doch wirkenden Mechanismen im Gang hält, und jegliche Kenntnisnahme bloß noch zufällig geschieht.
Das Selfpublishing ist der lange Arm des Bitterfelder Wegs. Ich schreibe das nicht, um irgendwen zu kränken. Warum soll es neben der professionellen Schriftstellerei nicht auch eine Laienschriftstellerei geben? Und warum soll nicht schreiben dürfen, wer schreiben möchte? Die Frage indes, in welcher Form beides nebeneinander besteht, ist wesentlich. Ich habe keine Lösungen, nur Anmerkungen. Wo die Laienschriftstellerei die Tendenz zeigt, die professionelle zu verschlucken, liegt etwas falsch. Und wie schon im Falle Bitterfeld ist dieses Missverhältnis dazu angetan, nicht bloß den Laien zum Schriftsteller, sondern auch den professionellen Schriftsteller laienhafter zu machen, so dass beide allmählich in der Idee des Autoren von heute konvergieren.
In einem Medienbetrieb, der sich ohnehin schon vor allem für den Menschen hinter dem Werk interessiert, gerät unter den Voraussetzungen der Selbstvermarktung auch für den Autor das Werk zum Beiwerk. So wie es das Phänomen des Buchs zum Film gibt, entsteht hier das Buch zum Autor. Wir leben im Zeitalter der sich auf Facebook und Twitter herzeigenden Schriftsteller, der Homestories und Making-ofs, der Interviews und Talkrunden, der unverzüglichen Stellungnahmen zu aktuellen Weltereignissen. Ich will dergleichen nicht tadeln, jeder hat das Recht, sich im Gespräch zu halten. Was den Selfpublisher indes vom traditionellen Autor unterscheidet, ist, dass er noch näher an diese Äußerlichkeiten gerückt ist. Er ist nicht bloß Autor, sondern auch Verlag, nicht bloß freier Produzent, auch Unternehmer. Das Marketing, das Netzwerken, die Pressekontakte, Kundenpflege usf. übernimmt er selbst. Er wird noch mehr Betrieb als ohnehin schon, wird mutmaßlich bestechlicher, beginnt stärker über Wirkungen und Gefälligkeit nachzudenken, als seinem Werk zuträglich sein kann.
Die Polarität Verleger – Autor zu vermitteln, ist das Unmögliche in dem Vorgang. Der Verleger ist nicht denkbar ohne eine gewisse Grandezza; er ist jovial, umspannend, nach allen Seiten gewandt. Seine Tätigkeit ist die Vermittlung. Er muss so sein, denn er ist nicht der kreative Teil im Gespann. Er hat die Produktionsmittel und verwirklicht sich selbst, indem er andere ermöglicht. Der Autor hingegen ist ein Spalter, eine Monade, ein Souverän oder zumindest doch ein in sich gefestigter Standort, der, um zu funktionieren, dem Weltverkehr partiell entsagen muss. Er darf sich der Welt nicht unterwerfen, d.h. auch keiner Partei, keiner Szene und erst recht nicht seinem Publikum. Er kann nicht vermitteln, weil er ja nur sich anzubieten hat. Er nimmt in seinem Werk bereits genügend Rücksichten, nun auch noch mit seinem Werk Rücksichten zu nehmen, geht über seine Kraft.
Aber der Selfpublisher, der Erfolg haben will, wird genau das tun. Er wird sich herzeigen, noch vor seinem Werk, und kontinuierlich das Profil des Aufsteigers herausstellen, dem keiner was geschenkt hat, der aber nicht jammert und dennoch irgendwie Mensch geblieben ist. Er wird gefällige Statusmeldungen auf Facebook absetzen, in denen steht, dass er die Arroganz intellektueller Eliten verabscheut, den demokratischen Rechtsstaat liebt, sich über deutsche WM-Siege freut und auch zum ESC eine Meinung hat. Er wird intensiv mit der Leserschaft kommunizieren und professionelle Photos machen lassen, auf denen er nachdenklich einen Stift hält oder neckisch hinter einer Spiegelwand hervorguckt. Er wird mit einem Wort ein Autor zum Anfassen und nicht begreifen, dass mit der Auslagerung dieser Albernheiten an einen geschäftigen Verlag sein Ich würde gestärkt sein.
So schreibt dann einer, der nicht mehr zu sagen hat als sein Publikum und dies Wenige kaum besser auszudrücken weiß. Nur dient ein Autor, der nicht zuerst auf sich selbst hört, dem Publikum nicht. Wer den kurzen Weg zur Leserschaft sucht, landet nicht vor ihr, sondern in ihrer Mitte. Und irgendwer aus dieser Mitte wird ihm dann schon die Frage stellen, an der auch Val Resnick gescheitert ist: Wenn du mir kein Feuer geben kannst, wozu brauch ich dich dann noch?
Der Autor ist ein Spalter, eine Monade, ein Souverän, der, um zu funktionieren, dem Weltverkehr partiell entsagen muss. Er darf sich der Welt nicht unterwerfen, d.h. auch keiner Partei, keiner Szene und erst recht nicht seinem Publikum.