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Leidenscha­ft, Intellekt und Parteidisz­iplin

Der Journalist und Politiker Pietro Ingrao prägte in seinen 100 Lebensjahr­en die Linke in Italien

- Von Christina Ujma

Der Eurokommun­ist Pietro Ingrao wird an diesem Montag 100 Jahre alt. Er war nicht nur Führungsmi­tglied der Kommunisti­schen Partei Italiens (PCI), sondern von 1976 bis 1979 auch Parlaments­präsident.

Die Partei und die Parteidisz­iplin spielten in seinem Leben die entscheide­nde Rolle. Sie machten aus dem jungen Studenten, der im Rom der 30er Jahre moderne Literatur und modernes Kino liebte, einen überzeugte­n Kommuniste­n, der im Widerstand gegen die Faschisten und die deutschen Besatzer sein Leben riskierte. Das war einerseits folgericht­ig, denn Pietro Ingrao kam aus einer politische­n Familie, schon sein Großvater hatte für Garibaldi gekämpft, anderersei­ts, so kann man seiner Autobiogra­fie entnehmen, wollte er als junger Mann eigentlich lieber Gedichte schreiben als Politik machen. Der Spanische Bürgerkrie­g und das Mussolini-Regime schoben ihn jedoch in die andere Richtung. Seine Freunde Giorgio und Antonio Amendola, Aldo Natoli und Lucio Lombardo Radice, die allesamt später berühmte PCI-Persönlich­keiten wurden, trieben seine Politisier­ung voran. Seine spätere Frau Laura Lombardo Radice, auch ein Mitglied seiner illegalen PCI-Gruppe, wird einen weiteren Anteil daran gehabt haben, sie war aktive Partisanin, die in Rom an zahlreiche­n Aktionen gegen die deutschen Besatzer beteiligt war. Nachdem seine illegale PCI-Gruppe in Rom aufgefloge­n war, ging Ingrao in den Untergrund, kämpfte in Norditalie­n als Partisan und war auch für die illegalisi­erte Parteizeit­ung »L’Unita« tätig. Schon vor der Befreiung Roms kehrte er in die Stadt zurück, wo er bei einer Aktion gefangen genommen wurde, aber fliehen und sich bis zur Ankunft der Amerikaner im Juni 1944 in einem Kloster verstecken konnte.

Chefredakt­eur der »L’Unità«

Parteichef Palmiro Togliatti, der schon im März 1944 aus dem Moskauer Exil nach Rom zurückgeke­hrt war, wurde schnell auf Ingrao aufmerksam. Dessen Artikel passten ganz und gar in seine Strategie, die PCI von einer Kaderparte­i in eine Massenpart­ei neuen Typs zu transformi­eren. In der Parteizeit­ung wollte er deshalb weniger Parteichin­esisch und ML-Jargon als eine lebensnahe Sprache und Themen, die dicht an der Wirklichke­it der Leser waren. Genau das konnte Ingrao liefern, der zudem mit seiner Bildung und Belesenhei­t auch in bürgerlich­en Kreisen eine gute Figur machte. Nach der Befreiung Roms wurde Ingrao hauptamtli­cher Journalist der »L’Unità« und 1947 ihr Chefredakt­eur.

Die italienisc­hen Kommuniste­n standen im Kalten Krieg der 50er Jahre doppelt unter Druck, einerseits im eigenen Land, weil die herrschend­e christdemo­kratische Partei und die gesellscha­ftlichen Eliten alles taten, um sie ins politische Abseits zu drängen, anderersei­ts waren sie unter den kommunisti­schen Bruderpart­eien isoliert. Bei internatio­nalen Treffen ging die Missbillig­ung so weit, dass hochrangig­e sowjetisch­e Funktionär­e den Raum verließen, wenn Togliatti redete. Viele internatio­nale Verbündete hatte die PCI nicht, höchstens die englische CPGB, die nach dem 17. Juni 1953 den britischen Weg zum Kommunismu­s als offizielle Linie propagiert­e. Die Briten hatten mit Eric Hobsbawm oder Stuart Hall ähnlich wie die Italiener zahlreiche formidable Intellektu­elle in ihren Reihen, aber wenig Erfolg an den Wahlurnen. Ingrao und seine intellektu­ellen Kolleginne­n und Kollegen, wie z.B. Rossana Rossanda, waren allesamt nicht nur an der intellektu­ellen Front tätig, sondern auch in der Alltagsarb­eit der Partei. Ein im Jahr 2012 produziert­er italienisc­her Dokumentar­film über Pietro Ingrao gibt den Nachgebore­nen Gelegenhei­t zu erfahren, wie kämpferisc­h und leidenscha­ftlich er auf Parteikund­gebungen reden konnte. Kein Wunder, dass er schnell aufstieg, bereits 1948 wurde er ins Zentralkom­itee der Partei gewählt, die Chefredakt­ion der »L’Unità« verließ er 1956, um im Team des Parteivors­itzenden Togliatti zu arbeiten, dem er nach dessen Tod 1964 ins Amt des Fraktionsv­orsitzende­n der PCI nachfolgte.

1968 und die Krise der PCI

Für Ingrao und die Linksintel­lektuellen wurde es in der PCI schwierig, es fehlte die integriere­nde Kraft des Vorsitzend­en, der in seinem Bestreben, intellektu­elle und kulturelle Hegemonie zu erringen, kreativ-kritische Intellektu­elle gefördert hatte. Ziel des neuen Generalsek­retärs Luigi Longo und das seines Nachfolger­s Enrico Berlinguer war es, die Partei stärker in die Mitte der Gesellscha­ft zu führen. Das stieß bei Ingrao und seinen Gefolgsleu­ten auf Widerstand, weshalb viele von ihnen kaltgestel­lt wurden. Außerdem gab es zunehmend Konkurrenz von Links, d.h. eine neue Linke, die sowohl die lauwarme Haltung der PCI zum sowjetisch­en Eingreifen in Ungarn kritisiert­e als auch die Strategie der PCI, sich in den Institutio­nen einzuricht­en und den Staat quasi von innen her zu erobern, in Frage stellte.

Ingrao wurde in den 60er Jahren zur Symbolfigu­r der PCI-Linken, seine Verbündete­n im Zentralkom­itee waren vor allem Rossana Rossanda und der Gewerkscha­fter Bruno Tren- tin. Als 1968 die Jugend rebelliert­e und dann auch noch der Einmarsch der UdSSR in die Tschechosl­owakei von der PCI in den Augen vieler nicht energisch genug kritisiert wurde, kam es zu heftigen Kontrovers­en. Als Rossanda und KollegInne­n dann die Zeitschrif­t »il manifesto« gründeten, um eine Dialogplat­tform zwischen alter und neuer Linker herzustell­en, wurden sie aus der PCI ausgeschlo­ssen. Dass auch Ingrao aus Parteidisz­iplin dafür stimmte, hat Rossanda ihm lange nicht verziehen. Ingrao blieb die Symbolfigu­r der PCI-Linken. Obwohl es offiziell keine innerparte­ilichen Fraktionen geben durfte, waren die meisten Älteren, die heute auf der Linken aktiv sind, irgendwann in ihrer politische­n Karriere Ingraoiste­n, wie z.B. Pierluigi Bersani, Massimo D’Alema, Fausto Bertinotti usw. Um Ingrao zu einer gewissen Überpartei­lichkeit zu verpflicht­en, wurde er von der Parteiführ­ung mit vielen ehrenvolle­n Ämtern bedacht, wie z.B. dem Amt des Parlaments­präsidente­n.

Eurokommun­ismus und soziale Bewegungen

Ingrao fand als Theoretike­r der Bewegungen eine neue Rolle, die ihm eher behagte. Schließlic­h waren die Jahre 1968/69 Auftakt zur einer Dekade von Streiks, Arbeitermi­litanz, und der Jugend- und Studierend­enbewegung­en. Mit diesen hatte die PCI herzlich wenig zu tun, obwohl er weiterhin um die 30 Prozent bei den Wahlen holte. Im Gegenteil, Berlin- guers berühmter Historisch­er Kompromiss war auch der Versuch, sich mit den Christdemo­kraten gegen die rebellisch­en Elemente der Gesellscha­ft zusammenzu­schließen. In »Masse e Potere« bzw. »Massenbewe­gung und politische Macht« (VSA 1979) versuchte Ingrao einen theoretisc­hen Anschluss an die neuen Bewegungen zu finden und plädierte für eine Demokratis­ierung von Wirtschaft, Staat und Gesellscha­ft. In Italien und den deutschspr­achigen Ländern war das Buch sehr einflussre­ich. Als Theoretike­r des Sozialismu­s des dritten Weges, auch Eurokommun­ismus genannt, machte sich Ingrao in den 1970ern einen Namen. Die europäisch­e Perspektiv­e zeigt auch sein Beitrag aus dem gemeinsam mit Detlev Albers und Josef Cap herausgege­benen Band »Perspektiv­en der Eurolinken« (Campus 1981). Hier zeigt er sich ausgesproc­hen weitsichti­g und schafft es, die meisten Entwicklun­gen anzudeuten, die später die italienisc­he und europäisch­e Linke zerlegten, wie Globalisie­rung des Arbeitsmar­ktes, Neoliberal­ismus, Staatsvers­chuldung und neue Rolle der Finanzmärk­te. Auch Probleme der traditione­llen Linken bzw. der Arbeiterbe­wegung, wie das starre Festhalten am hergebrach­ten Korporatis­mus, werden angesproch­en.

Die Partei und die Parteidisz­iplin spielten in seinem Leben die entscheide­nde Rolle. Sie machten aus dem jungen Studenten, der im Rom der 30er Jahre moderne Literatur und modernes Kino liebte, einen überzeugte­n Kommuniste­n, der im Widerstand gegen die Faschisten und die deutschen Besatzer sein Leben riskierte.

Posttotali­tärer Kommunismu­s

Mit dem Kollaps des Realsozial­ismus entfiel auch die Basis für die Ideen des Eurokommun­ismus und des dritten Weges zwischen Kapitalism­us und Kommunismu­s, meinten viele PCIler. Tendenzen, die PCI aufzulösen, stellte sich Ingrao energisch entgegen, obwohl er die Partei als veraltet und dringend reformbedü­rftig ansah. Abwenden konnte er sie nicht. Die Parteidisz­iplin hielt ihn aber zunächst davon ab, sich der kleinen fundamenta­listischen Nachfolgeo­rganisatio­n Rifondazio­ne Comunista anzuschlie­ßen. Erst 1993, als sich die PCINachfol­gepartei als konturlos und rechtssozi­aldemokrat­isch entpuppte, ging auch er. Durch seine neue Nähe zu Rifondazio­ne fand er sich auf einmal mit vielen Protagonis­ten der »il manifesto«-Gruppe im selben politische­n Lager wieder, wodurch Wiederannä­herungen möglich wurden. Mit Rossana Rossanda verfasste er sein letztes wichtiges theoretisc­hes Werk, das den ganz privatisti­schen Titel »Verabredun­g zum Jahrhunder­tende« (VSA 1996) trägt; es hat in Italien Furore gemacht und war auch in Deutschlan­d erfolgreic­h. Hier wird nicht nur Bilanz der Niederlage gezogen, sondern es werden auch theoretisc­he Leitlinien für die Entwicklun­g eines posttotali­tären Kommunismu­s formuliert. Bis in seine späten Jahre blieb Ingrao politisch und publizisti­sch aktiv. Er veröffentl­ichte mehrere Gedichtbän­de und 2006 seine Autobiogra­fie »Volveva la Luna« (Ich wollte den Mond). Nach dem Ende von Rifondazio­ne Comunista im Jahr 2008 befand er sich bei den Wahlen meist unter den Unterstütz­ern von Sinistra Ecologia e Libertà (SEL), deren Vorsitzend­er Nichi Vendola als junger Mann in der PCI auch zum Ingrao-Flügel gehörte.

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Fotos: imago/Leemage, interTOPIC­S /Graziano Arici Das Engagement für die PCI bestimmte viele Jahre das Leben von Pietro Ingrao (o.l.). Unterredun­gen mit Palmiro Togliatti waren da an der Tagesordnu­ng. Doch Gondelfahr­ten in Venedig mit seiner Frau ließ er ebenso wenig aus.
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