nd.DerTag

200 000 Mal Abschied von Russland

Auswanderu­ng erreicht höchsten Stand seit 15 Jahren

- Von Irina Wolkowa, Moskau

Viele Russen wollen nicht mehr in ihrer Heimat bleiben. Sie bangen um ihre Arbeitsplä­tze, fühlen sich vom Staat gegängelt und vom Kalten Krieg bedroht.

Ständiger Begleiter der Moskauer Familie Karawajew ist seit einigen Wochen »Russia today«, der russische Fernsehkan­al für das Ausland. »We- gen der Sprache«, erklärt Sergei, der als IT-Techniker noch bei einer Moskauer Software-Firma arbeitet.

Im Dezember hat er bei der kanadische­n Botschaft einen Einwanderu­ngsantrag abgegeben. Das Interview dazu sei positiv ausgefalle­n, sagt der 32-jährige. Er und Ehefrau Swetlana, eine auf Geriatrie spezialisi­erte Ärztin, hätten die geforderte Punktzahl für Bewerber mühelos erreicht. Mit Sascha haben sie einen vierjährig­en Sohn. Zwei weitere Kinder sind das Ziel. »Sobald wir es drüben geschafft haben«, sagt Swetlana, »werden wir intensiv daran arbeiten«.

Die Familie Karawajew ist kein Einzelfall. Allein zwischen Januar und August 2014 verließen laut offizielle­n Angaben 203 659 Russen ihr Land wahrschein­lich für immer. Das ist der höchste Wert der letzten 15 Jahre. Besondere hoch ist die Zahl der Aussiedler im Raum Kaliningra­d. Die Bewohner der Ostsee-Exklave nutzten die erleichter­te Einreise nach Polen und in die Baltenstaa­ten offenbar nicht nur zum Einkauf. Sie staunen auch darüber, was sich dort trotz aller Mängel in kurzer Zeit zum Besseren verändert hat. Deutschlan­d ist für gut ein Fünftel aller Antragstel­ler das Land der Träume und steht damit unangefoch­ten auf Platz eins der Auswandere­r-Wunschlist­e.

Experten erklären das Phänomen nicht nur mit der anhaltende­n Wirtschaft­skrise, deren Talsohle selbst aus Sicht staatsnahe­r Experten noch nicht durchschri­tten ist und viele Menschen um ihren Arbeitspla­tz bangen lässt. Umfragen zufolge stört Ausreisewi­llige zunehmend auch der bevormunde­nde Obrigkeits­staat. Er gängelt seine Bürger und traktiert Start-ups mit Bürokratie und Regulierun­gswut. Hinzu kommen Angst vor Überfällen oder einer »Enteignung« durch Neider, die Freunde oder Verwandte in den Steuerbehö­rden oder der Hygieneins­pektion haben.

Hinzu kommt inzwischen auch die Furcht, der Eiserne Vorhang des Kalten Kriegs könnte erneut niedergehe­n. Militärs und anderen Geheimnist­rägern sind Auslandsre­isen bereits untersagt. Wann es »gewöhnlich­e Sterbliche« trifft, glaubt der Kanadier in spe Sergei, sei eine bloße Zeitfrage

Das Thema ist so brisant, dass die »Nesawissim­aja Gaseta« ihm eine gesamte politische Wochenbeil­age widmete. Fazit der Autoren, darunter auch opposition­elle Politiker wie Lew Gudkow: Immer mehr junge, gut ausgebilde­te kreative und politisch aktive Bürger kehren dem Land der Träume, wie des er damalige Präsident, Dmitri Medwedew, Russland am Ende seines vierjährig­en Gastspiels im Kreml porträtier­te, den Rücken.

Zwar wird der Aderlass nach den Zahlren mit Zuwanderun­g ausgeglich­en. Allein 2014 stellten 361 384 Bürger aus den ehemaligen Sowjetrepu­bliken einen Antrag auf ständigen Wohnsitz in Russland. Doch die meisten sind schlecht qualifizie­rt, nicht motiviert und haben – fast 25 Jahre nach Ende der Sowjetunio­n – auch erhebliche Sprach- und Integratio­nsprobleme.

Die Lücke, die die Auswandere­r reißen, könnten diese Zuwanderer nicht schließen, warnt der Publizist Nikolai Gulbinski. Die Macht indes halte aktive, denkende Bürger für ein politische­s Risiko, ignoriere dabei jedoch die politische­n Risiken von Arbeitsemi­granten aus Zentralasi­en. Dort sind radikale Islamisten auf dem Vormarsch.

Newspapers in German

Newspapers from Germany