Wertschätzung für die Ärmsten
Tuncay Tüysüz betreibt im Hamburger Problemstadtteil Billstedt zwei Kindergärten
Wie sich Kinder fühlen, die aus einer anderen Kultur kommen und in Armut aufwachsen, weiß Tuncay Tüysüz. Der Pädagoge aus Hamburg-Billstedt stammt selbst aus einer Einwandererfamilie.
Mit zehn Jahren kam der junge Tuncay aus einem kleinen Dorf in Anatolien zu seinen Eltern nach Hamburg – der Großvater, der sich um ihn gekümmert hatte, war gestorben. Weil eine Lehrerin das Talent des Jungen erkannte und ihn förderte, machte er später sein Abitur und absolvierte ein Studium. Heute betreibt der Familienvater zwei Kitas in Hamburg-Billstedt und möchte den Kindern in dem »Problem«-Stadtteil das ermöglichen, was ihm einst widerfahren war: »Eine schöne Kindheit.«
Mal positiv ausgedrückt: Kaum ein Stadtteil ist so international wie Billstedt, wo der Migrationsanteil 47 Prozent beträgt. »Das ist aber nur die offizielle Zahl, in Wirklichkeit ist sie größer«, erzählt Tuncay Tüysüz, der neben Türkisch und Deutsch auch Arabisch, Englisch und einige Brocken Afghanisch spricht: »Und wenn es nur wenige Wörter sind, das kommt immer gut an.« Hilfreich ist auch die Vielsprachigkeit seiner Beschäftigten, denn in der Muttersprache können die Eltern der Kita-Kinder besser erreicht werden. In den von Tüysüz betriebenen Einrichtungen sind 16 Nationalitäten vertreten, zehn Muttersprachen der Kinder können die Mitarbeiterinnen auffangen.
Zehn bis 20 Prozent der Kinder, die die Kitas Billstedt Zentrum und Puzzlestein besuchen, wachsen in schwierigen Elternhäusern auf. Viele kommen morgens ohne Frühstück in die Kita. »Manche sind so ausgehungert, dass sie hier gleich alles reinhauen, ohne vorher zu kauen«, berichtet der 44jährige Kita-Chef. Einige erscheinen derart ungepflegt, dass die Kita immer Klamotten zum Tausch bereithält. Bezahlt werden die von den Eltern später nicht: »Egal«, sagt Tüysüz, »Menschlichkeit hat bei uns die höchste Priorität. Die Kleinen sollen später wenigstens sagen: Ich hatte eine schöne Kindheit.«
Neben Sachspenden unterstützen die Kita-Mitarbeiter Eltern auch bei familiären Problemen, geben Tipps, wo es günstig Anziehsachen gibt, vermitteln bei Sprachproblemen Logo- päden und veranstalten Informationsabende mit Ergotherapeuten. »Aber manchmal stoßen wir auch an Grenzen. Wir können nur Empfehlungen aussprechen, aber nicht in die Familien reingehen«, sagt Tüysüz und fordert eine nachhaltigere Arbeit der Familienbetreuer ein: »Einige machen leider nur Dienst nach Vorschrift, und manchmal nicht einmal das.«
Es ist aber nicht alles schlecht in dem Stadtteil, in dem Tuncay Tüysüz aufgewachsen ist und den er »liebt«, wie er sagt: »Billstedt ist sehr lebendig, hat viele Grünflächen, hält allerdings für Jugendliche kaum Angebote bereit.« Außer dem Einkaufszentrum gebe es keine Anlaufpunkte, eine hohe Jugendarbeitslosigkeit verschärfe die trostlose Lage der Heranwachsenden. Es ist wie ein Kampf gegen Windmühlen. »Viele mit Migrationshintergrund haben schon ein Problem, überhaupt einen Praktikumsplatz zu bekommen.« Die Kehrseite des Problems bekommt auch der Kita-Betreiber zu spüren: »Auf dem Arbeitsmarkt ist es schwer, Fachpersonal zu bekommen, außerdem meiden einige Erzieher diesen Stadtteil, wollen hier nicht arbeiten.« So leidet Billstedt doppelt unter einem Stigma: Wer von dort kommt, ist anderswo nicht gern gesehen. Und dorthin will auch kaum einer.
Tuncay Tüysüz hat mehr Glück gehabt als viele der Billstedter Jugendlichen, die nicht so recht wissen, welche Richtung ihr Leben einschlagen wird. Dabei waren die Voraussetzungen für ihn alles andere als rosig. Die ersten Jahre seines Lebens verbrachte
Tuncay Tüysüz er in einem Dorf an der Küste des Schwarzen Meers – ohne jeden Luxus, ohne Elektrizität. »Ich weiß, was Armut bedeutet«, sagt Tüysüz, der einer Erziehungsperson viel zu verdanken hat: »Ich hatte in Schule Thadenstraße eine gute Lehrerin, die mich sehr unterstützt hat. Manchmal brachte sie mich sogar nach dem Unterricht mit dem Auto nach Hause.« Wertschätzung, sagt der Sohn eines Stahlarbeiters, sei sehr wichtig im Leben.
Mit 21 heiratete Tuncay Tüysüz, der heute drei Kinder im Alter von 23, fünf und drei Jahren hat. Er studierte in Vechta Sozialwissenschaften, später wechselte er das Studienfach und schloss als Diplom-Pädagoge ab. »Mit einer Eins«, sagt er stolz. Trotzdem fand er erst nach einem Jahr einen Job. Nach einem Praktikum in einer Kindertagesstätte stand für Tüysüz fest: »Ich gründe selbst eine Kita.« Er machte sich schlau, prüfte die wirtschaftlichen Rahmendaten und schlug sich mit den Behörden-Auflagen herum: »Es war eine schwere Zeit.« 2005 gründete Tüysüz die Kita Billstedt Zentrum, 2010 folgte die Kita Puzzlestein. Heute hat er 43 Mitarbeiter, die sich um 170 Kinder kümmern.
In beiden Kitas bekommen die Jungen und Mädchen nicht nur ein warmes Essen, sondern auch etwas vermittelt, was in den Elternhäusern oft fehlt: Orientierung und Anregungen. Dazu gehört auch das Vorlesen aus Büchern. Bald können die Mitarbeiter den Eltern auch aus einem Buch ihres Chef vortragen, denn zurzeit arbeitet der Pädagoge an einem wissenschaftlichen Werk zu Familie, Ehe und Beziehungen. Arbeitstitel: »Verliebt, verlobt, geschieden«. Das Sachbuch wird zuerst auf Türkisch erscheinen und soll helfen, Beziehungen zu stabilisieren.
»Die Kinder sollen später sagen: Ich hatte eine schöne Kindheit.«