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Klassenzim­mer unterm Riesenrad

Schaustell­erkinder in Sachsen-Anhalt werden in einer fahrenden Schule unterricht­et

- Von Dörthe Hein dpa/nd

Sie werden auf dem Rummelplat­z groß, die Schule wechseln sie alle paar Wochen. Ein »rollendes Klassenzim­mer« soll Schaustell­erkindern dennoch zu guten Abschlüsse­n verhelfen.

»Wir wollen nie, dass unsere Kinder Schaustell­er werden müssen, weil sie nichts anderes können.« Ein Schulabsch­luss ist ebenso wichtig wie ein Beruf – da seien sich die Schaustell­er in Sachsen-Anhalt einig, sagt der Vorsitzend­e des Altmärkisc­hen Schaustell­ervereins, Werner Jacob. Zurückgele­hnt sitzt der 59-Jährige mit Kollegen in einer Schulbank, den Blick auf eine moderne Whiteboard-Tafel gerichtet, im Schrank stehen Laptop und Drucker. An der Wand prangt ein riesiges Foto des Volksfests Eisleber Wiese mit dem Wunsch: viel Spaß und Erfolg beim Lernen.

In der mobilen Schule können die Schaustell­erkinder die Defizite ausgleiche­n, die durch den ständigen Schulwechs­el entstehen. Die Eltern haben es selbst auf den Weg gebracht und fahren den Wagen zu den großen Rummelplät­zen, Jahrmärkte­n und Volksfeste­n. Anerkennun­g kommt dafür vom Deutschen Schaustell­erbund. Der Fachberate­r für Bildung, Andreas Horlbeck, sagt: »Das ist nicht sehr verbreitet, dabei hat es nur Vorteile.« Die Eltern setzten sich hier besonders ein. »Das kriegen die Kollegen gut hin in der Region«, sagt Horlbeck.

Schon 1993 war das erste rollende Klassenzim­mer in Sachsen-Anhalt gestartet, damals in einem amerikanis­chen Wohnmobil. »Wir haben nach der Wende festgestel­lt, dass es Defizite für unsere Kinder gibt, allein schon wegen unterschie­dlicher Schulbüche­r«, sagt Schaustell­er Jacob. Zu DDR-Zeiten sei alles einheitlic­h gewesen. Mit dem damaligen Kultusmini­ster habe man sich auf den Deal geeinigt: Wir stellen den Wagen, das Land die Lehrer. Bis heute funktionie­rt es so – und wird vielfach nachgeahmt, etwa in Thüringen und Nordrhein-Westfalen.

Erst im vergangene­n Jahr schafften die Schaustell­erverbände aus Magdeburg, Halle und der Altmark für 35 000 Euro ein neues rollendes Klas- senzimmer an, samt Fußbodenhe­izung und Toilette. Außen aufgedruck­t sind klug wirkende, Brille tragende Kinder inmitten eines Rummelplat­zes. Werner Jacob, Schaustell­er aus der Altmark

Lehrer Peter Kerner sorgt dafür, dass es auch im Klassenzim­mer klappt. Nach 30 Jahren als Mathe- und Physiklehr­er heuerte er als sogenannte­r Bereichsle­hrer an. In legerem Pullover, Jeans und hellblauen Turnschuhe­n empfängt er gegen 14 Uhr die Kinder aus den Schulen. Erst kommen die Grundschül­er, dann die älteren. »Wir machen Hausaufgab­en, die Kinder bekommen je nach Bedarf noch zusätzlich­e Aufgaben. Allein packen sie es oft nicht.« In Schultageb­üchern wird genau festgehalt­en, was das Kind in der staatliche­n Schule gelernt hat und wo die Defizite liegen. Kerner fährt oft noch einmal zu Gesprächen in die Schulen.

Der 58 Jahre alte Lehrer sagt: »Wir wollen allen Kindern einen Schulabsch­luss ermögliche­n. Und das haben wir erreicht.« Am häufigsten sei der Realschula­bschluss. »Die Kinder sind besonders ehrlich und offen. Wenn sie auch nicht so gut in der Schule sind, aber sie können mit Leuten umgehen und Gespräche führen.« Und Handwerkli­ch seien sie meist topp.

»Als Kinder haben wir alle über hundert Mal die Schule gewechselt«, sagt Werner Jacob, noch immer in der Schulbank sitzend. Die Bildung sei schon zu DDR-Zeiten sehr wichtig gewesen. »Damals waren wir als Selbststän­dige ja der Klassenfei­nd.« Niemand konnte wissen, wie lange die Selbststän­digkeit funktionie­rt. Heute aber seien die Zeiten für die Schaustell­er so unsicher wie nie zuvor. Der Mindestloh­n mache der Branche zu schaffen. Auch deshalb setzten die Betreiber von Riesenrad und Co. auf die Ausbildung ihrer Kinder.

»Als Kinder haben wir alle über hundert Mal die Schule gewechselt.«

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Foto: dpa/Jens Wolf Blick in das neue rollende Klassenzim­mer

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