Was kein Tourist sieht
Fernab
von Colosseum und Fontana di Trevi liegen die Orte, die Roms Touristen nie zu sehen bekommen. Die Orte jenseits des GRA, des Grande Accordo Anulare. Eine Ringautobahn, die die Stadt in 70 Kilometern Länge einkreist und sie in ein Innen teilt und ein Außen, ein historisches Zentrum, ein Niemandsland in Autobahnnähe und ein Vorstadtgeflecht. Dokumentarfilmer Gianfranco Rosi drehte in diesen Bereichen, im Rom der Außenviertel und Außenseiter, der Notfallsanitäter und prekären Straßenprostitution, der Aalfischer und Schäfer, der Migranten, Plattenbausiedlungen und Einfamilienhäuschen, der Stadt, wo sie Land wird, aber Land nicht mehr Land ist.
»Sacro GRA – Das andere Rom«, der Überraschungsgewinner des Filmfests Venedig 2013, seit wenigen Tagen auch in den deutschen Kinos zu sehen, hat nicht die Wucht von Rosis »El Sicario – Room 164«, einem sachlichen Film über das Foltern und Töten im Auftrag mexikanischer Drogenkartelle, der das Blut in den Adern gefrieren lässt. Aber Rosis neuer Film schärft den Blick für Dinge, die sonst selten genauer betrachtet werden. Italo Calvino und seine »Unsichtbaren Städte« waren die Inspiration für Rosis (leicht nachinszenierten) Blick auf Bereiche, die sich in ihrer Fragmentiertheit jeder übergeordneten Interpretation entziehen.
Denn was soll man groß schließen aus den Bildern, die schwarzbestrumpfte Go-Go-Girls zeigen, Römerinnen beide, die in einer Bar auf dem Tresen tanzen und sich anstarren lassen von der mit ostentativer Langeweile abhängenden männlichen Jugend der Plattenbautenbezirke? Was sagt uns der Rettungssanitäter, der die Opfer des Straßenverkehrs von der Autobahn sammelt, seine alte Mutter zärtlich versorgt und den
Feuerschlucker, abgehalfterte Adelige, alternde Prostituierte.
volltrunkenen Obdachlosen beim Namen kennt, den er aus einem Kanal zog? Oder der graubärtigen Hochhausbewohner, der sich fragt, ob die Häuschen gegenüber bewohnt sind, weil dort ja nie Licht brennt, oder ob seine Tochter und er am Ende ganz allein sind in ihrer winzigen Etagenwohnung?
Und dann gibt es noch den abgehalfterten Adligen, der seinen längst von den Ausläufern der Großstadt umzingelten Palazzo als Kulisse für Fernsehserien und Fotoroman-Shootings vermietet, die schöne Menschen in gescripteten Klischeerollen inmitten schöner Möbel zeigen. Und es gibt die beiden alternden Prostituierten im Wohnwagen an einer Seitenstraße, die von Polizeiwillkür berichten sowie den Aalfischer mit der ukrainischen Katalogbraut, der über ein Fachblatt schimpft, das über die alltägliche Nöte des Aalfischers nicht berichtet.
Rosi zeigt nächtliche Feuerschlucker und sonntägliche Merengue-Tänzer, eine kleine lateinamerikanische Exil-Gemeinde auf einem gepflasterten Platz von großer architektonischer Unbeholfenheit, weit weg von den Touristenströmen, die sich auf die innerstädtischen Plätzen ergießen.