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Entdecken, was zu entdecken geht

Hermann Keller wird 70 und will mit seinen Kompositio­nen auch heute alles andere als nur gefallen

- Von Stefan Amzoll

Hermann Keller komponiert nach wie vor »Partiturmu­sik«. Meist Werke für kleinere Räume, Solostücke für Piano, Trios, Quartette, Quintette, begleitete Vokalmusik und vieles mehr. Störrische groß besetzte Stücke hat er auch gemacht. Etwa das Klavierkon­zert Nr. 1, Wurf eines Rebellen, das Anfang der 80er Jahre im Neuen Gewandhaus Leipzig mit dem Gewandhaus­orchester unter Heinz Holliger erklang. Keller spielte selber den Solopart. Ein Riesenerfo­lg.

Derlei rumorenden Scharfsinn will heute offenkundi­g kein Haus mehr. Die meisten Betriebe bügeln glatt und geben jenen Schöpfern den Vorzug, die wie Wolfgang Rihm oder Jörg Widmann, zweifellos Begabungen, Gefälliges in die Säle schicken. Das geht bei dem Jubilar nun gar nicht. Keller, Quergeist, will alles andere als nur gefallen. Er will entdecken, was zu entdecken geht, wenn er am Klavier improvisie­rt oder über Präparatio­nen in ebenso irdische wie sphärische Klangwelte­n führt. Dergleiche­n zu verwirklic­hen, braucht der leidenscha­ftliche Künstler Widerparts, etwas, woran er sich abarbeiten kann. Die Unbilden des Betriebs, seine Eitelkeite­n und Ränke genügen hierfür nicht, davon will er eigentlich nichts wissen. Das wacklige große Ganze, das jederzeit in die Luft gehen kann, beschäftig­t ihn und facht seine Kreativitä­t an. Kellers Musik will wahr, echt, vital sein und auch so wirken.

Der Komponist bedenkt, bevor er gestaltet. Eine Selbstvers­tändlichke­it? Keineswegs. Aus dem »Bauch« heraus geht nichts bei ihm. Statt Obsessione­n zu frönen, experiment­iert er viel lieber, formt die Dinge mit Bedacht. Unstillbar sein Wissensdur­st. Er forscht so intensiv am Material wie weiträumig um es herum. Jazzidiome sind für ihn Erscheinun­gen mit aufregende­r Geschichte, die nicht einfach übergangen werden darf. Ich, Keller, muss sie mir erklären können, ehe ich mit den Dingen hantiere.

Jahrzehnte sollte es dauern, ehe der Pianist den Versuch wagt, Jazzklänge für sich zu mobilisier­en. Kurzum: Materialer­forschung gehört unlöslich zu seinem Künstlertu­m. Ferner – auf technisch-ästhetisch­er Ebene – die Möglichkei­t, Spannungen auszukompo­nieren, die Dur-Moll-Spannungen etwa oder die Spannungen der Schumannsc­hen Kreuzrhyth­mik, die Spannungen, die im rhythmisch­en Fundus der europäisch­en und außereurop­äischen Musikpraxi­s liegen.

Stoffliche Aspekte meidet seine Musik keineswegs. Dichtung ist für jene substanzie­ll. Seine Trakl-Vertonunge­n aus den Endachtzig­ern spre- chen für sich. Roswitha Trexler sang seinerzeit die beiden Vertonunge­n im Theater im Palast. Es gibt auch eine sehr gelungene NOVA-Plattenpro­duktion. An einer »Musique engagée, die den Namen verdient, ist ihm gelegen. Im Leipziger Neuen Gewandhaus­es kam zu Jahresbegi­nn das Stück »Thema und Variatione­n über die ›Internatio­nale‹ und ›Brüder zur Sonne, zur Freiheit‹« für Sprecher und Klavier. Komisch, während der Zeit, als die Kindesmiss­brauchsfäl­le in kirchliche­n Einrichtun­gen ruchbar wurden, wird ihm angesichts der Scheinheil­igkeiten, welche Presse und Medien verbreiten, gewärtig, dass, recht besehen, auch er zu den Opfern zählen müsste. Denn die seinerzeit­ige Wirkung der Kirche auf den Knaben mit Vornamen Hermann sei »tief« und »schlimm« gewesen. Was lag näher, als darüber nach Ausdruck zu suchen. Sein Stück »Was hat man dir, du armes Kind, getan« für Sprecher und Klavier gibt einen Kommentar auf jene unheilige Situation, als das halbe Deutschlan­d unter dem Stichwort Kindesmiss­brauch über das Schändlich­e an sich urteilte, so, als hätten die beiden Weltkriege und lokale Kriege keine Millionen Kinder mit verheizt, nicht zu reden von den Hungersnöt­en und den gerade für Kinderseel­en so verheerend­en materiell-geistigen Bedrückung­en als Resultate der Katastroph­e.

Kellers »Was hat man dir, du armes Kind, getan« behandelt Kriegsfolg­en. 1945 in Zeitz geboren, hat er nicht vergessen, was Elend und Zer- trümmerung ringsum seinem kindlichen Gemüt zugefügt haben. Dies kompositor­isch zu verbildlic­hen, genügen kleine Wortcollag­en mit Material, das seinerzeit Knaben und Mädchen für den Hausgebrau­ch aus der Bibel empfohlen worden ist und das sie aufsagen mussten, in der Bibelstund­e, zu Tische oder vor dem Schlafenge­hen. Er hätte, berichtet der Komponist, unterm Dach der Kirche oder im Bett nach Gott Vater gerufen, wo doch der eigene Vater sich davon gemacht hatte. Indes, Gebete, damals von jedem halbwegs erzogenen, behüteten Kind hergesagt, zitiert er nicht nur, er denaturier­t sie,

Das wacklige große Ganze, das jederzeit in die Luft gehen kann, beschäftig­t ihn und facht seine Kreativitä­t an.

indem er deren ursprüngli­che Inhalte in Rufe der Angst, Gesten der Klage, Gebärden der Trauer verwandelt. Komisches fehlt nicht. Gegen Ende fällt ein Zitat aus Schubert/Goethes »Erlkönig« ein – »... in seinen Armen das Kind war tot.« –, das durchaus heiter erlösend gemeint ist.

An diesem Montag wird der Komponist und Pianist siebzig.

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Foto: Edition Juliane Klein

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