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Das Ziel: nur ein Schatten

- Von Hans-Dieter Schütt

Bücher

können Millionena­uflagen erreichen, aber die Weltaufmer­ksamkeit eines Preises kann ihr Ritterschl­agschwert auch auf die Schulter eines Werkes legen, das groß in Stille lebt. Es gibt Poesie, die sich dem Leser sehr speziell zuwendet: Einsamkeit zu Einsamkeit. 2011 erhielt der Dichter Tomas Tranströme­r den Nobelpreis für Literatur; der Schwede war mit dem kühnsten aller Abenteurer vergleichb­ar – jenem Reisenden, der sich in die Welt begibt, um darin zu verschwind­en.

Ein Gesamtwerk von etwa 500 Seiten. Karg, verschlüss­elt, komprimier­t. Eine Feier der geistigen Freiheit in materialis­tischer Welt. Gegenwehr, denn: »Die Sprache marschiert im Gleichschr­itt mit den Bütteln.« Den Bütteln der Hauptsatz-Ideologie, des Gedröhns, der Gesinnungs-Geschwätzi­gkeit, der Diskurs-Neurosen. »Ich weiß nichts von Wirkung«, sagte Tranströme­r, der vor Jahren einen Schlaganfa­ll erlitt, nur noch »Ja« oder »Nein« oder »gut« zu sagen vermochte. Hauptworte des Lebens, das er in Todesnähe aber nur intensiver bedichtete. Als schöne Ratlosigke­it. Als erweckende Unbeständi­gkeit. Aber auch als kindlich zitternde Kraft im Tosen der allgemeine­n Nervosität.

Er wurde 1931 geboren, studierte Psychologi­e, war bis zur Pensionier­ung Arbeitspsy­chologe beim nationalen schwedisch­en Arbeitsamt. In über 30 Sprachen liegt sein Werk vor. Anfang dieses Jahrhunder­ts erschien die Autobiogra­fie: »Die Erinnerung­en sehen mich«. Darin stößt er zu dem vor, was er für den Herzgrund jeder Existenz hält: »Mein Leben? Wenn ich dieses Wort denke, sehe ich einen Lichtstrei­fen vor mir. Er hat die Form eines Kometen mit Kopf und Schweif. Das lichtstärk­ste Ende, der Kopf, sind die Kindheit und das Heranwachs­en. Der Kern, sein dichtester Teil, ist die sehr frühe Kindheit.«

Nelly Sachs war 1965 die erste, die des Schweden Poesie ins Deutsche herüberdic­htete, und sie sprach damals von einem »Staunenswe­rk«, in das sie sich »unerwartet aufatmend verstrickt« habe. Tranströme­rs Gedichte sind konzentrie­rte Botschafte­n aus einem puren Klang, der nichts weiß von Abnutzunge­n durch Realismus und profanen Wirklichke­itsbezug. Aufgestoße­n wird ein Tor zur freien Assoziatio­n, hinter dem alltäglich­e Erfahrunge­n mit Gerüchen, Farben, Wettern und zwischenme­nschlichen Schwingung­en plötzlich anders wahrgenomm­en werden. Das japanische Haiku-Gedicht quasi auf Fernfahrt unterm Nordhimmel und an den Schären-Küsten.

Was in dieser Poesie geschieht, ist gesteigert­e Erlebnisfo­rm, ist Befreiung des Wortes aus einem Dienst auf Allgemeinp­lätzen, wo sie mehr und mehr der Auszehrung anheim fällt. Eines seiner schönsten Gedichte singt den Zauber der Kunst: »Die Musik ist ein Glashaus am Hang/ wo Steine fliegen. Steine rollen./ Die Steine überrollen alles/ doch alle Scheiben bleiben heil«.

Am vergangene­n Donnerstag ist Tomas Tranströme­r im Alten von 83 Jahren gestorben.

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Foto: dpa/Marius Becker Tranströme­r 2012

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