Unausgebrütete Einheit
Notizen von einem Rundgang durch die Sonderausstellung des DHM zu 25 Jahre Vereinigung
Von Siegern und Verlierern erzählt eine neue Ausstellung in Berlin.
Die Handschrift ist unverkennbar. Wissenschaftler des Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam haben an der neuen Sonderausstellung des Deutschen Historischen Museums (DHM) mitgewirkt. Und das war auch gut so. Es wird ein durchaus kritischer Blick auf den deutschdeutschen Vereinigungsprozess gewagt, fern von offiziellen Beweihräucherungsritualen und Lobgesängen damals und heute agierender und regierender Politiker sowie von in der restaurierten kapitalistischen Gesellschaft rasch angekommenen Ex-DDRBürgerrechtlern. Fern auch von den Hasstiraden und verdummenden Verdammungsurteilen à la Hubertus Knabe gegen alles, wofür die DDR stand oder stehen wollte.
»Alltag Einheit« ist die Ausstellung überschrieben. Gezeichnet wird das Porträt einer Übergangsgesellschaft. Auch wenn die Ostdeutschen mit ihren Erlebnissen und Erfahrungen im Mittelpunkt stehen, werden ebenso die Veränderungen im Leben der Westdeutschen verdeutlicht – die freilich nicht ganz so gravierend waren wie die ihrer »Brüder und Schwestern« zwischen Elbe und Oder.
DHM-Direktor Alexander Koch erinnerte zur Eröffnung der Schau an die »Experimentierfreude« der 1990er Jahre, die man im I.M. Pei-Bau widerspiegeln wollte. Gewiss, die gab es. Doch alle »Experimente«, die auf eine alternative Gesellschaft oder zumindest Vereinigung der jeweiligen Stärken der konträren Ordnungen in Ostund Westdeutschland zielten, waren rasch abgewürgt. Und die »Experimentierfreude« bundesdeutscher Konzernherren und Manager bei der Übernahme einer kompletten Infrastruktur sollte sich für Millionen »Eingeborener« fatal auswirken – was in der Schau insbesondere beim Schwerpunkt »Arbeitswelt« benannt ist.
Von »Experimenten« sprach auch Martin Sabrow, Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung. Und meinte damit den sozio-kulturellen Ansatz des Ausstellungskonzeptes. Nicht die große Politik, nicht Bush und Baker, Gorbatschow und Schewardnadse, nicht Kohl und Genscher interessierten sein Team. »Da- rauf hatten wir keine Lust.« Man wollte in die Gesellschaft respektive Gesellschaften blicken. Bei der Arbeit an der Exposition, die innerhalb weniger Monate realisiert wurde, habe man festgestellt, dass »wir alle Kinder der Einheit sind und uns selber historisieren müssen«, so der Geschichtsprofessor. Sein Mitarbeiter Jürgen Danyel ist einer der personifizierten »Exponate«, zu erleben per Videomitschnitt von einer hitzigen geschichtspolitischen Debatte Anfang der 1990er Jahre. Von einer »atemlosen Zeit, die man atemlos erlebte«, sprach der in der DDR sozialisierte Kollege von Sabrow.
Die ost- und westdeutschen Kuratoren waren sich einig, nicht die »festgezurrten wie falschen Narrative der Sieger und Besiegten« zu kolportieren, sondern ein »offenes Angebot« zu unterbreiten, das der Besucher mit eigenen Erfahrungen abgleichen kann. Ostdeutsche Lebensläufe werden getreu dem Sabrowschen Credo beäugt: »Nicht urteilen und richten, sondern verstehen und begreifen.«
Auffallend ist die Sparsamkeit bei gegenständlichen Objekten. Fotos, Plakate, Zeitungen, Dokumente und filmische Aufzeichnungen, darunter Interviews mit gesellschaftlichen Protagonisten, dominieren. Doris MüllerToovey vom DHM begründete dies mit dem noch bescheidenen Sammlungsbestand ihrer Einrichtung bezüglich Exponate des Vereinigungsprozesses. Was überrascht. Wie auch Sabrows Bedauern, man habe sich bei der Erarbeitung der Ausstellung nicht auf einen satten Forschungsvorlauf stützen können. Wer die wissenschaftlichen Arbeiten an seinem Institut über die Jahre verfolgt hat, meint hingegen, sie allein würden ausreichen, den gegenüber dem Museum bereits stattlich gewachsenen Rohbau des Berliner Schlosses in Gänze zu tapezieren.
Wie auch immer, die Historiker wissen mehr, als sie auf begrenztem Raum darstellen und kommentieren können. So beweist auch diese Ausstellung Mut zur Lücke. Mancher ostdeutsche Besucher mag »großen Mut zu großen Lücken« registrieren. Dem sei entgegengehalten: Eine museale Schau kann nicht mit einem Lexikon wetteifern und will auch kein Leporello mit endlosem Fußnotenapparat sein. Mit den gewählten acht thema- tischen Schwerpunkten ist hier jedenfalls fast die gesamte Bandbreite gesellschaftlicher Bereiche und Probleme der ersten Hälfte der 1990er Jahre abgedeckt. Über die Chronologie der Kapitel könnte man eventuell diskutieren. Nach zwei großformativen Fotos eingangs mit Blicken beiderseits der durchbrochenen Berliner Mauer und den abgestellten Plakaten der Großdemonstration vom 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz empfängt den Besucher ein »Wörterbaum«, der von einem gespaltenen Sprachschatz kündigt; »Trikotagen« etwa ist ein originär ostdeutsches Wort. Hinzu kamen bald neue Kreationen des Volksmundes wie »Wendehals«, »Jammerossi« und »Besserwessi«.
Zeitgenossen werden sich erinnern, wie westdeutsche Blätter den ostdeutschen Zeitungsmarkt bereits kurz nach dem Mauerfall bedeckten, die Meinungsbildung übernahmen und die sich gerade neu erfindenden ostdeutschen Publikationen verdrängten, darunter auch Kinderzeitungen und Modejournale. Einzig »neues deutschland« und »junge welt«, behaupteten sich, befreit von alten Zwängen. Den tiefgreifendsten Einschnitt markierte der Einzug der DMark, symbolisiert durch eine rollende Filiale, einen Bus der Deutschen Bank in Mühlhausen. Die interaktive Ausstellung fragt, was sich Ostdeutsche von ihrem »Begrüßungsgeld«, von den ersten Scheinen in harter Währung kauften. An einer anderen Station kann der Besucher schnuppernd erraten, was nach Osten und was nach Westen riecht – Braunkohle versus Luxus-Seife. Das ist lustig. Todernst geht es weiter im Kapitel »Arbeitswelt«. Das Kündigungsscheiben an eine Textilarbeiterin im sächsischen Crimmitschau steht für ungezählte Schicksale. Und wenn man in der Schau liest, dass die Treuhand von den ihr überantworteten 12 000 Betrieben 8500 »schnell privatisierte«, hätte man gern gewusst, wie viele sogleich geschlossen wurden, plattgemacht aus Konkurrenzunlust. Erfreulich ist, dass die mutigen, hungerstreikenden Kalikumpel von Bischofferode nicht vergessen sind. Da die Ausstellungsgestalter jedoch nicht nur von Misserfolgen, sondern ebenso von Erfolgen berichten wollten, begegnet man zwangsläufig auch dem Rotkäppchen-Sekt und den Eberswalder Würstchen; doch auch diese beiden Firmen hatten einen »dramatischer Schrumpfungsprozess« hinter sich, wie nüchtern vermerkt wird.
Zur Abwicklung der ostdeutschen Wissenschaft sind kritisch-selbstkritische Bekundungen von Jürgen Kocka, emeritierter Professor an der Freien Universität Berlin und 1992 Gründungsdirektor des Zentrums für Zeithistorische Forschung, zu vernehmen sowie Fotografien zu sehen von einer Demonstration der Humboldtianer mit Rektor Heinrich Fink am 17. Dezember 1990 unter der Kampfansage »Wickelt den Senat ab, nicht die Uni!« Auch das DHM ist einer Abwicklung entsprungen. Der aus westdeutscher Provinz stammende Gründungsdirektor Christoph Stölzl bekam das von den Mitarbeitern des DDR-Museums für Deutsche Geschichte »bereinigte« barocke Haus Unter den Linden samt prall gefüllten Fundus geschenkt – was in der Schau von dero selbst freilich spitzbübisch umschrieben wird.
Dergleichen Piratenakte gab es hunderttausendfach, was den Ostdeutschen das Gefühl der Kolonisierung, Beraubung und Entrechtung geben musste. Und was gewiss auch mitverantwortlich für den unmittelbar nach der »Vereinigung« aufkommenden Rechtsextremismus war, der in der Schau nicht nur mit den mörderischen Übergriffen auf Ausländer in Hoyerswerda und Rostock-Lichterhagen, sondern ebenso in Mölln und Solingen thematisiert wird. In der Fremdenfeindlichkeit wirkte und wirkt eben nicht nur»die kulturelle Abschottung der DDR« nach.
Sollte man den pointiertesten Satz in der Ausstellung zu den Geschehnissen vor nunmehr über zwei Dezennien benennen, wäre ein heißer Favorit: »Betrüger und Geschäftemacher hatten in dieser Zeit leichtes Spiel.« Und das am meisten beredte Exponat wäre vielleicht das »garantiert unausgebrütete Einheitsei« in den Farben Schwarz-Rot-Gold. »Alltag Einheit. Porträt einer Übergangsgesellschaft«, DHM, Unter den Linden, Berlin, bis 3. Januar 2016, täglich 10-18 Uhr, Eintritt 8 €, ermäßigt 4 €, bis 18 Jahre frei; Katalog (144 S., br., 12,80 €).