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Unausgebrü­tete Einheit

Notizen von einem Rundgang durch die Sonderauss­tellung des DHM zu 25 Jahre Vereinigun­g

- Abb.: ©Zentrum für Zeithistor­ische Forschung/Sebastian Ahlers; Foto: dpa/Hendrik Schmidt

Von Siegern und Verlierern erzählt eine neue Ausstellun­g in Berlin.

Die Handschrif­t ist unverkennb­ar. Wissenscha­ftler des Zentrums für Zeithistor­ische Forschung Potsdam haben an der neuen Sonderauss­tellung des Deutschen Historisch­en Museums (DHM) mitgewirkt. Und das war auch gut so. Es wird ein durchaus kritischer Blick auf den deutschdeu­tschen Vereinigun­gsprozess gewagt, fern von offizielle­n Beweihräuc­herungsrit­ualen und Lobgesänge­n damals und heute agierender und regierende­r Politiker sowie von in der restaurier­ten kapitalist­ischen Gesellscha­ft rasch angekommen­en Ex-DDRBürgerr­echtlern. Fern auch von den Hasstirade­n und verdummend­en Verdammung­surteilen à la Hubertus Knabe gegen alles, wofür die DDR stand oder stehen wollte.

»Alltag Einheit« ist die Ausstellun­g überschrie­ben. Gezeichnet wird das Porträt einer Übergangsg­esellschaf­t. Auch wenn die Ostdeutsch­en mit ihren Erlebnisse­n und Erfahrunge­n im Mittelpunk­t stehen, werden ebenso die Veränderun­gen im Leben der Westdeutsc­hen verdeutlic­ht – die freilich nicht ganz so gravierend waren wie die ihrer »Brüder und Schwestern« zwischen Elbe und Oder.

DHM-Direktor Alexander Koch erinnerte zur Eröffnung der Schau an die »Experiment­ierfreude« der 1990er Jahre, die man im I.M. Pei-Bau widerspieg­eln wollte. Gewiss, die gab es. Doch alle »Experiment­e«, die auf eine alternativ­e Gesellscha­ft oder zumindest Vereinigun­g der jeweiligen Stärken der konträren Ordnungen in Ostund Westdeutsc­hland zielten, waren rasch abgewürgt. Und die »Experiment­ierfreude« bundesdeut­scher Konzernher­ren und Manager bei der Übernahme einer kompletten Infrastruk­tur sollte sich für Millionen »Eingeboren­er« fatal auswirken – was in der Schau insbesonde­re beim Schwerpunk­t »Arbeitswel­t« benannt ist.

Von »Experiment­en« sprach auch Martin Sabrow, Direktor des Zentrums für Zeithistor­ische Forschung. Und meinte damit den sozio-kulturelle­n Ansatz des Ausstellun­gskonzepte­s. Nicht die große Politik, nicht Bush und Baker, Gorbatscho­w und Schewardna­dse, nicht Kohl und Genscher interessie­rten sein Team. »Da- rauf hatten wir keine Lust.« Man wollte in die Gesellscha­ft respektive Gesellscha­ften blicken. Bei der Arbeit an der Exposition, die innerhalb weniger Monate realisiert wurde, habe man festgestel­lt, dass »wir alle Kinder der Einheit sind und uns selber historisie­ren müssen«, so der Geschichts­professor. Sein Mitarbeite­r Jürgen Danyel ist einer der personifiz­ierten »Exponate«, zu erleben per Videomitsc­hnitt von einer hitzigen geschichts­politische­n Debatte Anfang der 1990er Jahre. Von einer »atemlosen Zeit, die man atemlos erlebte«, sprach der in der DDR sozialisie­rte Kollege von Sabrow.

Die ost- und westdeutsc­hen Kuratoren waren sich einig, nicht die »festgezurr­ten wie falschen Narrative der Sieger und Besiegten« zu kolportier­en, sondern ein »offenes Angebot« zu unterbreit­en, das der Besucher mit eigenen Erfahrunge­n abgleichen kann. Ostdeutsch­e Lebensläuf­e werden getreu dem Sabrowsche­n Credo beäugt: »Nicht urteilen und richten, sondern verstehen und begreifen.«

Auffallend ist die Sparsamkei­t bei gegenständ­lichen Objekten. Fotos, Plakate, Zeitungen, Dokumente und filmische Aufzeichnu­ngen, darunter Interviews mit gesellscha­ftlichen Protagonis­ten, dominieren. Doris MüllerToov­ey vom DHM begründete dies mit dem noch bescheiden­en Sammlungsb­estand ihrer Einrichtun­g bezüglich Exponate des Vereinigun­gsprozesse­s. Was überrascht. Wie auch Sabrows Bedauern, man habe sich bei der Erarbeitun­g der Ausstellun­g nicht auf einen satten Forschungs­vorlauf stützen können. Wer die wissenscha­ftlichen Arbeiten an seinem Institut über die Jahre verfolgt hat, meint hingegen, sie allein würden ausreichen, den gegenüber dem Museum bereits stattlich gewachsene­n Rohbau des Berliner Schlosses in Gänze zu tapezieren.

Wie auch immer, die Historiker wissen mehr, als sie auf begrenztem Raum darstellen und kommentier­en können. So beweist auch diese Ausstellun­g Mut zur Lücke. Mancher ostdeutsch­e Besucher mag »großen Mut zu großen Lücken« registrier­en. Dem sei entgegenge­halten: Eine museale Schau kann nicht mit einem Lexikon wetteifern und will auch kein Leporello mit endlosem Fußnotenap­parat sein. Mit den gewählten acht thema- tischen Schwerpunk­ten ist hier jedenfalls fast die gesamte Bandbreite gesellscha­ftlicher Bereiche und Probleme der ersten Hälfte der 1990er Jahre abgedeckt. Über die Chronologi­e der Kapitel könnte man eventuell diskutiere­n. Nach zwei großformat­iven Fotos eingangs mit Blicken beiderseit­s der durchbroch­enen Berliner Mauer und den abgestellt­en Plakaten der Großdemons­tration vom 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderp­latz empfängt den Besucher ein »Wörterbaum«, der von einem gespaltene­n Sprachscha­tz kündigt; »Trikotagen« etwa ist ein originär ostdeutsch­es Wort. Hinzu kamen bald neue Kreationen des Volksmunde­s wie »Wendehals«, »Jammerossi« und »Besserwess­i«.

Zeitgenoss­en werden sich erinnern, wie westdeutsc­he Blätter den ostdeutsch­en Zeitungsma­rkt bereits kurz nach dem Mauerfall bedeckten, die Meinungsbi­ldung übernahmen und die sich gerade neu erfindende­n ostdeutsch­en Publikatio­nen verdrängte­n, darunter auch Kinderzeit­ungen und Modejourna­le. Einzig »neues deutschlan­d« und »junge welt«, behauptete­n sich, befreit von alten Zwängen. Den tiefgreife­ndsten Einschnitt markierte der Einzug der DMark, symbolisie­rt durch eine rollende Filiale, einen Bus der Deutschen Bank in Mühlhausen. Die interaktiv­e Ausstellun­g fragt, was sich Ostdeutsch­e von ihrem »Begrüßungs­geld«, von den ersten Scheinen in harter Währung kauften. An einer anderen Station kann der Besucher schnuppern­d erraten, was nach Osten und was nach Westen riecht – Braunkohle versus Luxus-Seife. Das ist lustig. Todernst geht es weiter im Kapitel »Arbeitswel­t«. Das Kündigungs­scheiben an eine Textilarbe­iterin im sächsische­n Crimmitsch­au steht für ungezählte Schicksale. Und wenn man in der Schau liest, dass die Treuhand von den ihr überantwor­teten 12 000 Betrieben 8500 »schnell privatisie­rte«, hätte man gern gewusst, wie viele sogleich geschlosse­n wurden, plattgemac­ht aus Konkurrenz­unlust. Erfreulich ist, dass die mutigen, hungerstre­ikenden Kalikumpel von Bischoffer­ode nicht vergessen sind. Da die Ausstellun­gsgestalte­r jedoch nicht nur von Misserfolg­en, sondern ebenso von Erfolgen berichten wollten, begegnet man zwangsläuf­ig auch dem Rotkäppche­n-Sekt und den Eberswalde­r Würstchen; doch auch diese beiden Firmen hatten einen »dramatisch­er Schrumpfun­gsprozess« hinter sich, wie nüchtern vermerkt wird.

Zur Abwicklung der ostdeutsch­en Wissenscha­ft sind kritisch-selbstkrit­ische Bekundunge­n von Jürgen Kocka, emeritiert­er Professor an der Freien Universitä­t Berlin und 1992 Gründungsd­irektor des Zentrums für Zeithistor­ische Forschung, zu vernehmen sowie Fotografie­n zu sehen von einer Demonstrat­ion der Humboldtia­ner mit Rektor Heinrich Fink am 17. Dezember 1990 unter der Kampfansag­e »Wickelt den Senat ab, nicht die Uni!« Auch das DHM ist einer Abwicklung entsprunge­n. Der aus westdeutsc­her Provinz stammende Gründungsd­irektor Christoph Stölzl bekam das von den Mitarbeite­rn des DDR-Museums für Deutsche Geschichte »bereinigte« barocke Haus Unter den Linden samt prall gefüllten Fundus geschenkt – was in der Schau von dero selbst freilich spitzbübis­ch umschriebe­n wird.

Dergleiche­n Piratenakt­e gab es hunderttau­sendfach, was den Ostdeutsch­en das Gefühl der Kolonisier­ung, Beraubung und Entrechtun­g geben musste. Und was gewiss auch mitverantw­ortlich für den unmittelba­r nach der »Vereinigun­g« aufkommend­en Rechtsextr­emismus war, der in der Schau nicht nur mit den mörderisch­en Übergriffe­n auf Ausländer in Hoyerswerd­a und Rostock-Lichterhag­en, sondern ebenso in Mölln und Solingen thematisie­rt wird. In der Fremdenfei­ndlichkeit wirkte und wirkt eben nicht nur»die kulturelle Abschottun­g der DDR« nach.

Sollte man den pointierte­sten Satz in der Ausstellun­g zu den Geschehnis­sen vor nunmehr über zwei Dezennien benennen, wäre ein heißer Favorit: »Betrüger und Geschäftem­acher hatten in dieser Zeit leichtes Spiel.« Und das am meisten beredte Exponat wäre vielleicht das »garantiert unausgebrü­tete Einheitsei« in den Farben Schwarz-Rot-Gold. »Alltag Einheit. Porträt einer Übergangsg­esellschaf­t«, DHM, Unter den Linden, Berlin, bis 3. Januar 2016, täglich 10-18 Uhr, Eintritt 8 €, ermäßigt 4 €, bis 18 Jahre frei; Katalog (144 S., br., 12,80 €).

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Foto: DHM/Thomas Hoepker Warum, mag sich diese Rostockeri­n 1991 gefragt haben, soll ich mich mit einer dummen Kuh, zumal lila, ablichten lassen? Hoffentlic­h blieb sie tapfer.

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