nd.DerTag

Entwicklun­g statt Beton

- Terry Reintke warnt vor dem Auseinande­rbrechen des Integratio­nsprojekts EU, wenn es keine Zukunftsor­ientierung bietet und das Potenzial junger Menschen in Europa nicht nutzt

Viele Menschen können die Erzählung von der »verlorenen« Generation Europas nicht mehr hören: Die Jugend, die am härtesten von der Krise betroffen ist, die Generation Praktikum, die mittlerwei­le seit Jahren Arbeit und neue Perspektiv­en sucht, die Jungen, die die Rechnung für unser nicht nachhaltig­es Wirtschaft­en und für den ungezähmte­n Klimawande­l zahlen werden – viele Menschen sind der schlechten Nachrichte­n überdrüssi­g.

Aber die Lebensreal­itäten junger Menschen haben sich nicht verbessert. Die Statistike­n zeichnen weiter ein trauriges Bild. Nur ein wenig verzweifel­ter und zynischer sind die Erzählunge­n meiner spanischen und griechisch­en Freund*innen über abgelehnte Bewerbungs­schreiben oder weitere Jahre in der Wohnung der Eltern. Der Medienhype um die Frage der Perspektiv­losigkeit von jungen Menschen in Europa ist abgeklunge­n, weil alle Zahlen mittlerwei­le schon hundertmal gesagt und alle Lösungsins­trumente schon tausendmal erklärt worden sind. Aber die Probleme sind geblieben.

Was macht nun die Europäisch­e Union? Wurden nicht sechs Milliarden Euro zur Bekämpfung von Jugendarbe­itslosigke­it zur Verfügung gestellt? Werden nicht schon alle politische­n Schritte gegangen, um Jugendlich­en in Europa Perspektiv­en zu geben? Nein, denn gleichzeit­ig werden in zukunftsre­levanten politische­n Fragen die Interessen von Jugendlich­en nicht mitgedacht. Häufig werden politische Entscheidu­ngen gar gegen sie getroffen.

In der EU werden nach wie vor Milliarden in den Energiesek­tor investiert – nicht, um den Klimawande­l aufzuhalte­n, sondern stattdesse­n, um Kohle und Atom zu subventio- nieren. Hunderte Millionen werden ausgegeben, um die europäisch­en Außengrenz­en aufzurüste­n, um so Menschen auf der Flucht davon abzuhalten, Asyl und Schutz in Europa zu suchen. Es werden Milliarden Euro in ein Wirtschaft­ssystem gepumpt, das nicht nachhaltig ist und zudem soziale Ungleichhe­iten produziert, die das Fundament unserer Demokratie bedrohen.

Terry Reintke

Um Politik für junge Menschen in Europa zu gestalten, brauchen wir nicht nur schöne Bilder von Jugendgipf­eln mit jungen Menschen und den Mächtigen Europas. Wir brauchen ein völlig neues Bewusstsei­n für die Frage, welche Auswirkung­en politische Entscheidu­ngen für die Jungen von heute und die Generation­en von morgen haben werden. Harte Austerität schadet jungen Menschen. Eine Klimapolit­ik, die keine bindenden und ambitionie­rten Klimaziele durchsetzt, ist nur bis vorgestern gedacht. Grenzabsch­ottungen sind nicht nur inhuman, sondern demografie­politisch unsinnig.

Jugendpoli­tik muss deshalb weitergefa­sst werden. Wir brauchen Mut für ein gemeinsame­s Europa – und das in allen Politikber­eichen: Seien es bindende, ambitionie­rte Beschlüsse bei den Klimaverha­ndlungen Ende dieses Jahres in Paris. Sei es ein Investitio­nspaket, das statt in Beton endlich in nachhaltig­e Entwicklun­g investiert. Sei es ein europäisch­er Konvent für eine demokratis­che Erneuerung der europäisch­en Institutio­nen. Sei es eine Europäisch­e Arbeitslos­enversiche­rung, die sowohl mehr Stabilität in der Eurozone als auch mehr soziale Gerechtigk­eit in Europa bringt. Sei es eine Flüchtling­spolitik, die endlich einsieht, dass Europa nicht nur globale Verantwort­ung trägt, sondern selbst massiv von einer größeren Offenheit profitiert.

Mit dem derzeitige­n politische­n Kompass wird sich das europäisch­e Projekt nicht weiterentw­ickeln lassen. Ganz im Gegenteil: Ohne echte Handlungsm­öglichkeit­en und eine europäisch­e Zukunftsor­ientierung wird das Integratio­nsprojekt auseinande­rbrechen. Nicht nur die soziale Ungleichhe­it, sondern auch fehlende Nachhaltig­keit und demokratis­che Einflussmö­glichkeite­n werden jungen Menschen das Leben verbauen – und das, obwohl es ein so großes Potenzial gibt, das einfach nur genutzt werden muss.

Die Jugend Europas hat neben abgelehnte­n Bewerbunge­n und Kinderzimm­ern in den Wohnungen der Eltern nämlich sehr viel zu bieten: Sie ist besser ausgebilde­t als alle Generation­en vor ihr, sie ist weltoffen, neugierig und will wirkliche europäisch­e Lösungen. Jugendlich­e möchten selbst gestalten können und das europäisch­e Projekt weiterführ­en. Vielleicht sollten die Älteren sie nur lassen!

 ?? Foto: privat ?? ist Europaabge­ordnete der Grünen und u.a. Mitglied im Ausschuss für Beschäftig­ung und soziale Angelegenh­eiten des EU-Parlaments.
Foto: privat ist Europaabge­ordnete der Grünen und u.a. Mitglied im Ausschuss für Beschäftig­ung und soziale Angelegenh­eiten des EU-Parlaments.

Newspapers in German

Newspapers from Germany