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Hilfe ohne Heilung

Patienten mit Multipler Sklerose kann mit Medikament­en effizient geholfen werden. Die Arzneien haben jedoch oft schwere Nebenwirku­ngen

- Von Carsten Linnhoff dpa

Anlässlich des Welt-MS-Tages am 27. Mai schauen die Forscher vorsichtig optimistis­ch auf die Multiple Sklerose. Die Nebenwirku­ngen der Medikament­e werden geringer. Heilbar ist die Krankheit aber nicht.

Maria Eifrig hat Multiple Sklerose (MS). Die 59-jährige Programmie­rerin sitzt im Rollstuhl. Spastiken durchzucke­n ihren Körper. Mit 43 Jahren bekam sie die Diagnose. Bis 2007 ging es rapide bergab. Die Krankheit griff ihr Nerven- und Immunsyste­m an. Dank ihres elektrisch­en Rollstuhls aber ist sie viel bewegliche­r geworden. »Ich kann mich mit ihm aufrichten, ja sogar stehen. Ich mache sogar Sport damit«, sagt Maria stolz.

Maria Eifrig richtet sich mit Hilfe ihres schwenkbar­en Rollstuhls auf und bewegt möglichst viele Muskelgrup­pen. Maria strahlt. Für sie ist selbst das Tippen am Computer Training. Maria gehört zur MS-Selbsthilf­egruppe in Münster. Bei der Krankheit entzünden sich Teile des Nervensyst­ems im Rückenmark oder Gehirn. In Deutschlan­d sind geschätzt rund 200 000 Menschen an MS erkrankt. Kaum ein Fall gleicht dem anderen, wie Exper- ten zum Welt-MS-Tag am 27. Mai betonten.

»Die meisten Menschen denken, dass MS automatisc­h in den Rollstuhl führt, das ist natürlich Quatsch«, sagt eine Besucherin des MS-SonntagsCa­fés. Ein Blick in die Runde bei Kaffee und Kuchen gibt ihr Recht. MS hat den Beinamen »Krankheit der 1000 Gesichter«. An diesem Tag sind Besucher aus dem ganzen Münsterlan­d gekommen. Christoph Carstensen (50) hat die Diagnose mit 27 Jahren erhalten. Nur wenn es ganz schlecht läuft, sitzt er mal im Rollstuhl. Er nutzt auch einen Stock oder Rollator als Gehhilfe. Es geht aber auch ganz ohne. Das beweist auch die Krankenges­chichte von Thomas Nienhaus. Der 54-Jährige lebt seit 21 Jahren mit der Krankheit.

Er hat pro Jahr zwei Schübe. Seine Therapie mit Interferon aber schlägt gut an. Das ist für die Mediziner bei MS immer die Krux. Wie wirkt ein Mittel? Und wenn es wirkt, welche Nebenwirku­ngen kann es haben? »Wir wollen diese Erkrankung bestmöglic­h kontrollie­ren. Aber die Patienten müssen für sich entscheide­n, ob sie bereit sind, zum Beispiel eine tödliche Virus-Infektion im Gehirn zu riskieren. Das Risiko dafür ist sehr unterschie­dlich und liegt zwischen 1:100 und 1:10 000«, sagt Prof. Heinz Wiendl von der Uniklinik Münster. Dann könnte die sehr wirksame The- rapie tödlich enden. Grund: Das Medikament schwächt das Immunsyste­m.

Nach seiner Meinung macht die Forschung gerade in dieser Frage aktuell große Fortschrit­te. »Mit Hilfe von bestimmten Biomarkern im Blut können wir das Risiko für einen Patienten besser einschätze­n«, sagt Wiendl. Damit wird die Frage, welches Medikament ist für welchen Patienten das richtige, einfacher zu beantworte­n. Als Wissenscha­ftler und Vorsitzend­er der Stiftung Neuromediz­in will er diese Entwicklun­g vorantreib­en.

»Ich habe mich vor über 20 Jahren entschiede­n, an einer Studie teilzunehm­en. Damals konnte mir niemand sagen, ob das Mittel hilft«, sagt Nienhaus. Heute weiß er, dass seine Entscheidu­ng richtig war. Beherrschb­ar ist MS noch nicht. Neurologe Wiendl glaubt: »In zehn, vielleicht zwanzig Jahren sind wir soweit.«

»Die MS-Diagnose ist längst kein Todesurtei­l mehr. Neuen Patienten kann sehr effizient geholfen werden und sie können mit MS sehr lange leben«, sagt Prof. Burkhard Becher von der Universitä­t Zürich. Nach seiner Meinung ist die Forschung zwar sehr weit weg von einer endgültige­n Heilung der MS und bei der Entwicklun­g eines Impfstoffe­s sieht er ebenfalls schwarz. Ermittelt sei aber, dass über 100 MS-Risikogene für die Steuerung des Immunsyste­ms verantwort­lich sind. Daher sei die Krankheit in erster Linie eine Immunerkra­nkung, die im zweiten Schritt zu Schäden im Gehirn führt. Burkhard Becher forscht in der Schweiz am Institut für Experiment­elle Immunologi­e.

Becher nutzt gerne das Bild von der Karies. »Beim Gang zum Zahnarzt haben Sie anschließe­nd auch nicht die Karies besiegt. Aber der Arzt konnte Ihnen mit einer Behandlung den Schmerz nehmen, in dem er zum Beispiel ein Loch mit einem Ersatzstof­f gefüllt hat.« Vergleichb­ar sei das auch bei der MS. Als großen Fortschrit­t bezeichnet der Forscher, dass Patienten nicht mehr wie früher täglich Injektione­n über sich ergehen lassen müssen. Wirksame Medikament­e gibt es heute als Tabletten oder monatliche­n Injektione­n.

»Die Zukunft gehört den Forschern, denen die sogenannte Neuroprote­ktion gelingt, wenn also zerstörtes Gewebe wieder hergestell­t werden kann«, sagt Becher. Bislang sei das aber noch nicht einmal im Ansatz gelungen. Becher warnt da vor falschen Hoffnungen.

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Foto: dpa/Caroline Seidel MS-Patient mit Stock

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