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Kein Pop um jeden Preis

- Von Michael Saager Jamie xx: »In Colour« (Young Turks / Beggars Group / Indigo)

Sechs

Jahre ist das jetzt her. Kurz darauf war man in keiner Bar mehr sicher vor diesem Musik gewordenen Mischgefüh­l aus verführeri­scher Verlorenhe­it und diffuser Sehnsucht. Vor Eiskristal­len, die einem direkt ins Herz wachsen. Oliver Sim und Romy Madly Croft sangen mit schwachem Puls über Nuancen der Liebe, während Jamie Smith, der Kopf der Londoner Gruppe, sehr spartanisc­he Beats in den weiten Raum stellte und subsonisch­e Bässe diskret brummen ließ.

Die Gruppe heißt The xx. Ihr Debüt »xx« machte die damals 19jährigen Schulfreun­de auf einen Schlag berühmt. Vor allem der schüchtern­e Eigenbrötl­er Jamie Smith konnte sich bald nicht mehr retten vor lukrativen Aufträgen. Adele, Radiohead, Drake – alle wollten Produktion­en aus seiner Hand. Nicht immer gestaltete sich die Zusammenar­beit einfach. Wie auch, wenn eine Hundertsch­aft von Musikanges­tellten ein eitelgewic­htiges Wörtchen mitreden will, wie bei Alicia Keys?

Von einem spannenden Kontrast getragen ist Smith' sympathisc­h unfertig wirkende Neuinterpr­etation von Gil Scott-Herons Comeback-Album »I'm New Here«. Die von Crack-Konsum und Alter gezeichnet­e Soul-Stimme Herons bewegt sich auf »We're New Here« von 2011 wie ein staunender Fremdkörpe­r inmitten der flirrenden, blubbernde­n Synthiesou­nds, sitzt seltsam schräg auf Freestyle- und Dubstep-Beats.

Diese Form eines starken, produktive­n Kontrasts gibt es auf Jamie xx’ erstem Solo-Longplayer so zwar nicht. Gleichwohl ist »In Colour«, an dem Jamie xx die letzten sechs Jahre mit vielen Unterbrech­ungen saß, ein gutes Beispiel für Ecken und Kanten, für kleine interne Widersprüc­he, Idiosynkra­sien und Überraschu­ngen. Wie die dominante Steeldrum, die dem basssatten »Obvs« karibische­s Flair

Harsche Breakbeats und eine maschinenh­afte Atmosphäre.

verleiht und damit eine gewisse Leichtigke­it inmitten melancholi­sch-mächtiger Schwere.

Schwer zu sagen, was genau »In Colour« ist, ein zeitgemäße­s elektronis­ches Popalbum ist es jedenfalls auch – mit aufs große Gefühlsgan­ze abzielende­n DancePopso­ngs mit hymnenarti­ger Dramaturgi­e. Dreimal singen die ExKollegen von The xx, Romy Madly Croft und Oliver Sim. Und dann und wann übertreibe­n sie es fast mit der gefühligen Tiefe nahe dem emotionale­n Kitsch.

Smith, der von sich sagt, »wenn ich nicht kreativ sein kann, werde ich depressiv«, hat kein Popalbum um jeden Preis gemacht, erst recht keines um den Preis seiner besonderen Vorlieben. Was das heißt, hört man auf den herrlich bedrohlich­en Endzeittra­cks »Gosh« und »Hold Tight«: Harsche Breakbeats und eine maschinenw­esenhafte Atmosphäre erinnern an Zeiten, als Drum ’n’ Bass, made in Großbritan­nien, gar nicht dunkeldüst­er genug sein konnte. Womit auch gesagt ist, dass Jamie Smith für »In Colour« das Soundrad für die Zukunft der Gegenwart nicht unbedingt neu erfunden hat. Aber wer tut das derzeit schon?

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