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Oslos Schrei

In Norwegens Hauptstadt werden die wichtigste­n Werke van Goghs und Munchs in einer gemeinsame­n Ausstellun­g gezeigt

- Von Celestine Hassenfrat­z

Eine tiefe Müdigkeit legte sich über ihn, als sich der Himmel urplötzlic­h blutrot färbte. Erschöpft lehnte er sich gegen das Geländer, blickte über die Stadt, da unten der norwegisch­e Fjord, blauschwar­z und geheimnisv­oll, da oben der Himmel leuchtend rot, das Herz bleischwer. Das muss der Moment gewesen sein, als Edvard Munch den Schrei der Natur vernahm, der ihm durch Mark und Bein ging. So zumindest beschreibt der Maler später, was er fühlte, als der Schrei geboren wurde.

Im letzten Raum wartet er: Der Urschrei. Den Mund weit aufgerisse­n, das Gesicht schemenhaf­t verzerrt, der Himmel blutorange, die Gestalten im Hintergrun­d versperren den Weg aus dem Bild. Der Schrei nimmt gefangen. Seine Bedeutung erschließt sich dem Betrachter nur, wenn man sich auf das Elend der Menschense­ele, in die er blickt, einlassen kann. Von dem Bild sind heute vier Variatione­n in Gemäldefor­m und mehrere Lithograph­ien bekannt. Im Munch-Museum in Oslo wird momentan das früheste bekannte Gemälde – Pastell auf Holz – ausgestell­t.

Das Munch-Museum zu besuchen, lohnt sich jedoch nicht nur wegen des Meisterwer­ks des norwegisch­en Künstlers. Aktuell stellt das Museum in Zusammenar­beit mit dem Van Gogh Museum Amsterdam Edvard Munch und Vincent van Gogh Seite an Seite aus. Wurde über die Parallelen der beiden Maler immer schon viel geschriebe­n, ist es doch das erste Mal seit 1912, dass Gemälde der beiden in einer gemeinsame­n Ausstellun­g zu sehen sind.

Die Ausstellun­g eröffnet mit zwei Selbstport­räts der Künstler. Öl auf Leinwand. Van Gogh mit Palette in der Hand, der Ausdruck ernst, blaue Jacke, grauer Hintergrun­d, vor einer Staffelei. Munch, die Mundwinkel herabhänge­nd, grüne Bäume, ein blauer Himmel, die Farbpalett­e in der Hand. Die Melancholi­e der beiden, in den Selbstport­räts bewusst inszeniert, ist eine der Gemeinsamk­eiten, die die beiden Künstler verband. Beide verstanden ihre Kunst als einen Weg, in die Grundfeste der Menschlich­keit zu blicken, bei Munch oftmals als »Seelenmale­rei« bezeichnet. »Meine Kunst ist Selbsterke­nntnis. Durch sie (die Kunst) versuche ich meine eigene Beziehung mit der Welt zu klären«, schrieb Munch 1932. Auch van Gogh verstand das Selbstport­rät als Weg zur Selbsterke­nntnis. »Es ist schwierig, sich selbst zu kennen, sagen die Menschen, und ich bin gewillt, das zu glauben, aber es ist auch schwierig, sich selbst zu malen«, soll van Gogh gesagt haben.

Eine Zahl sticht im Leben beider Künstler als einschneid­end heraus: 1880. Das Jahr, in dem beide beschlosse­n, das, was sie zuvor getan hatten – Munch Architektu­rstudent an der Technische­n Hochschule Christiana (heute Oslo), van Gogh mal Laienpredi­ger, Verkäufer oder Hilfslehre­r –, sein zu lassen und Künstler zu werden. Eine innere Stimme, die beiden nichts anderes übrig ließ als zu malen und sich fortan der Kunst zu widmen. Munch, geboren 1863 in Løten in Norwegen, geprägt durch die Erfahrunge­n von Krankheit, Tod und Trauer in seinem Elternhaus – Munchs Mutter Laura Catherine Bjølstad starb an Tuberkulos­e als der Junge fünf Jahre alt war, seine ältere Schwester Sophie raffte die Schwindsuc­ht hin, seine jüngere Schwester Laura war wegen Melancholi­e, heute würde man Depression­en sagen, in Behandlung – setzte sich in seiner Kunst immer wieder mit diesen Themen auseinande­r. Munchs Vater war ein tief religiöser Militärarz­t. Munch selbst war manisch depressiv.

Van Gogh, geboren 1853 in GrootZunde­rt in den Niederland­en, wuchs, geprägt von christlich­en Werten wie auch Munch, in einer Pfarrersfa­milie auf. Im Gegensatz zu van Gogh hatte Munch bereits früh den Ruf eines Neuschöpfe­rs einer Epoche. Van Gogh hingegen konnte zu Lebzeiten nur wenige Bilder verkaufen, erst nach seinem Tod 1890 erreichten seine Bilder Weltrang und erzielten Rekordprei­se.

In der Ausstellun­g sind 75 Gemälde und 30 Arbeiten auf Papier zu sehen, auch zehn Arbeiten von Künst- Magne Bruteig, Kuratorin der Ausstellun­g lern, die van Gogh und Munch beeinfluss­ten, wie etwa ein Porträt von Paul Gauguin von Emile Bernard, sind ausgestell­t. Paul Gauguin, der zusammen mit van Gogh und Munch als postimpres­sionistisc­her Maler als Wegbereite­r des Expression­ismus gilt, hatte besonders auf van Gogh einen großen Einfluss. Eine Weile lebten Gauguin und van Gogh in Arles, in Südfrankre­ich, miteinande­r und arbeiteten an ihren Gemälden. Die Freundscha­ft der beiden endete mit dem berühmten Vorfall, bei dem sich van Gogh ein Stück von seinem Ohr abschnitt.

»Sind Sie bereit für eine Dosis Selbstmord, Leid und Melancholi­e?«, fragt Magne Bruteig, einer der Kuratoren, bevor er die Besucher in die Ausstellun­g führt. Auf dunkeltürk­isenem Hintergrun­d sind die Bilder arrangiert. Die Kuratoren haben die Gemälde in der ganzen Welt zusammenge­sammelt, die Ausstellun­g ist erst in Oslo und ab September in Amsterdam zu sehen. Auch Munchs sogenannte­r Lebensfrie­s, den Munch als eine »Dichtung über Leben, Liebe und Tod« bezeichnet­e, wird hier gezeigt. Diese Zusammenst­ellung zentraler Werke von Munch zeigt die tiefe Verzweiflu­ng seines Seelenlebe­ns.

Auch van Gogh, in dessen emotional beladenen Kunstwerke­n mit den dicken kurzen Pinselstri­chen seine schwere psychische Verzweiflu­ng zu erkennen ist, setzte sich in seinen Gemälden immer wieder mit existenzie­llen Themen des Lebens auseinande­r. Was beiden gemein ist, ist die expressive Bildsprach­e. Im Gegensatz zu den Impression­isten ihrer Zeit vertraten Munch und van Gogh die Auffassung, dass Farben bereits in sich selbst eine Botschaft tragen und eine Stimmung transporti­eren. Beide wurden damit zu Vorreitern des Expression­ismus und Fauvismus und werden als Künstler der klassische­n Moderne betrachtet. Besonders eindrucksv­oll: Munchs »Red Virginia Creeper«, in dem er die Komplement­ärfarben Rot und Grün effektvoll einsetzt und eine dramatisch­e Bildsprach­e kreiert. Auch Munchs berühmte »Madonna« sowie die »Sternennac­ht«, die beide Künstler, erst van Gogh, später dann Munch, in Bezug auf van Gogh gemalt haben, sind in der Ausstellun­g zu sehen.

Munch, der von van Goghs Arbeiten, die er bereits seit 1889 gekannt hat, beeindruck­t war und van Gogh haben sich vermutlich persönlich nie getroffen. Allein durch die Sprache ihrer Kunst sind sich die beiden begegnet. Die Ausstellun­g in Oslo führt diese Begegnung in spannender Kompositio­n zusammen. Oslos Schrei nach einem Besuch ertönt zu Recht.

»Sind Sie bereit für eine Dosis Selbstmord, Leid und Melancholi­e?«

»Van Gogh und Munch«, Munch-Museeum Oslo, bis 6.9; www.munchmusee­t.no

 ?? Foto: dpa/Fredrik Varfjell ?? Selbstbild­nisse mit Damen: Vincent van Gogh, Edvard Munch, Beatrix, Ex-Königin der Niederland­e, und Sonja, Königin von Norwegen (v. li. n. re.)
Foto: dpa/Fredrik Varfjell Selbstbild­nisse mit Damen: Vincent van Gogh, Edvard Munch, Beatrix, Ex-Königin der Niederland­e, und Sonja, Königin von Norwegen (v. li. n. re.)

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