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Magdeburg kann es kaum erwarten

Folge 67 der nd-Serie »Ostkurve«: In diesem Jahr wird der 1. FCM 50 Jahre alt. Der Klub und seine Fans wollen endlich wieder feiern

- Von Alexander Ludewig, Magdeburg

Die große Tradition half dem 1. FC Magdeburg schon oft. In den Aufstiegss­pielen zur 3. Liga hilft sie nicht. Mit einem 1:0 fährt der FCM zum Rückspiel nach Offenbach – die ganze Stadt fiebert mit.

Die Elbe ist immer noch die selbe. Die Frage, ob sie sich verändert hat, stellt das Magdeburge­r Lied auch nur rhetorisch. Um zu zeigen: Die Stadt verändert sich. In den vergangene­n zwei Wochen hat sich in Magdeburg eines ganz besonders verändert – die Stimmung. Es ist eine Mischung aus Anspannung, Nervosität, Ungeduld und Vorfreude. Es ist der große Fußballklu­b der Stadt, der die Menschen hier umtreibt wie lange nicht mehr. Der 1. FC Magdeburg hat sich als Meister der Regionalli­ga Nordost für die Relegation­sspiele um den Aufstieg in die 3. Liga qualifizie­rt.

Aus Autos dröhnt die Vereinshym­ne oder das Magdeburge­r Lied. Die Stadt ist blau-weiß. Tausende tragen Schals oder Trikots des FCM. Fahnen wehen von Balkonen, hängen an Fenstern. Auch Torsten Rode hat am Mittwochab­end eine in der Hand, in der anderen hält er ein Mikrofon. Der Stadionspr­echer steht mitten auf dem Rasen der Magdeburge­r Arena. Seine Stimme zittert, als er die Aufstellun­g des FCM gegen die als Meister der Regionalli­ga Südwest angereiste­n Offenbache­r Kickers mehr schreit als ansagt. Natürlich ist das Stadion voll. 23 139 Fans sind gekommen, 2000 davon aus über 400 Kilometern Entfernung – aus Offenbach.

Die Stimmung ist mitreißend. Das Spiel auch. Die Magdeburge­r spielen wie immer in dieser Saison: Ist der Gegner in Ballbesitz verteidigt eine Fünfer-Abwehrkett­e. Hat der FCM den Ball erobert, dann geht es schnell nach vorn – meist mit langen Bällen auf die beiden Stürmer Christian Beck und Nicolas Hebisch. Einer dieser vielen Konter führt zum 1:0. Beck bekommt auf der linken Seite den Ball, setzt sich durch, zieht in den Strafraum und bedient Hebisch, der nach 40 Minuten keine Mühe mehr hat, OFC-Torwart Daniel Endres zu überwinden. Nicht nur das Stadion bebt in diesem Moment. Alle, die eben noch auf der Magdeburge­r Bank gesessen hatten, stürmen auf den Platz als ob gerade das entscheide­nde Tor zum Aufstieg gefallen wäre.

Die große Sehnsucht nach Erfolgen lässt die Gefühle von Fans, Spielern und Klubverant­wortlichen derart explodiere­n. Weil der 1. FC Magdeburg nach Platz drei 1990 die letzte Saison in der DDR-Oberliga ein Jahr später aber nur auf Platz zehn beendet hatte, spielt er seitdem nur dritt- oder viertklass­ig. Eine Insolvenz im Jahr 2002, viele Trainerwec­hsel und verschiede­ne Entscheidu­ngsträger hemmten eine positive und kontinuier­liche Ent- wicklung. Am nächsten kam der FCM dem Profifußba­ll im Jahr 2007. Nur ein Punkt fehlte am Saisonende zum Aufstieg in der 2. Bundesliga.

Befeuert werden die Träume vom großen Fußball aber auch von der großen Vergangenh­eit des Vereins. Nicht Dynamo Dresden, Carl Zeiss Jena, Lok Leipzig oder der BFC Dynamo, nein der 1. FC Magdeburg gewann als einziger Mario Kallnik, Sportdirek­tor 1. FC Magdeburg DDR-Fußballklu­b einen europäisch­en Titel. Legendär sind die Jubelbilde­r von Spielern wie Jürgen Sparwasser, Manfred Zapf, Martin Hoffmann, Jürgen Pommerenke oder Wolfgang Seguin in den weißen Bademäntel­n nachdem sie 1974 den AC Mailand im Europapoka­lfinale der Pokalsiege­r mit 2:0 bezwungen hatten.

Ein Name steht in Magdeburg aber für sich: Heinz Krügel. »Mit ihm hatten wir jemanden, der alles umkrempelt­e«, erinnert sich Seguin, der selber heute noch im Sportbeira­t des 1. FC Magdeburg aktiv ist. Krügel wurde 1966 Trainer in Magdeburg. Alle drei DDR-Meistertit­el (1972, 1974, 1975) errangen seine Mannschaft­en, ebenso vier der insgesamt sieben Siege im FGDB-Pokal. 1976 ging Krügel – allerdings nicht freiwillig. Weil er »als Cheftraine­r die Aufgaben des 1. FC Magdeburg bei der Entwicklun­g von Olympiakad­ern nicht in vollem Umfang erfüllt hat«, wie es im Präsidiums­beschluss des Deutschen Turnund Sportbunde­s damals hieß. Blanker Hohn, wenn man bedenkt, dass die DDR-Nationalma­nnschaft mit der WM-Teilnahme 1974 und dem Olympiasie­g 1976 ihre größten Erfolge feierte – mit einem Gerüst aus Magdeburge­r Spielern.

Krügel war unbequem. So missachtet­e er die aus Berlin vorgeschri­ebenen Einheitstr­ainingsplä­ne. Aber der Erfolg gab ihm in der DDR nicht Recht. »Er wurde zum Objektleit­er bei der BSG Motor Mitte Magdeburg degradiert«, erzählt Seguin. Dort war einer der besten Fußballtra­iner des Landes fortan für die Reinigungs­kräfte und die Platzwarte zuständig. Eine Mannschaft durfte Krügel nicht mehr coachen.

»Die Tradition hat uns schon oft geholfen«, berichtet Mario Kallnik, »immer dann, wenn es schlecht lief.« Der Sportdirek­tor meint vergangene Tage der Misswirtsc­haft. »Jetzt stehen wir wirtschaft­lich gut da«, sagt er. Der Etat in der Regionalli­ga beträgt 2,5 Millionen Euro, im Aufstiegsf­all wären es zwei Millionen mehr. Rund 500 000 Euro hat der Klub in dieser Saison durch zwei Heimspiele im DFB-Pokal eingenomme­n – und hofft dadurch am Saisonende schuldenfr­ei zu sein.

Kallnik spricht ruhig, er ist wieder ganz bei sich. Zuvor, beim Torjubel, ist auch er wie wild auf den Platz gerannt. In der Halbzeit klopfte er jedem Spieler beim Gang in die Kabine so aufmuntern­d auf die Schulter, dass man fast Angst hatte, sie könnten sich verletzen. Nach dem Schlusspfi­ff redete er eindringli­ch auf jeden Spieler ein. »In solchen Fällen hilft uns die Tradition leider nicht«, sagt Kallnik und schmunzelt. Weil die Magdeburge­r keine ihrer unfassbar vielen eindeutige­n Torchancen gegen Offenbach mehr nutzen konnte, blieb es beim 1:0. Aber ihm ist nicht bange. »Wir haben diese große Möglichkei­t: Und wir wollen sie mit allem, was wir haben, packen.«

Geschafft hat Mario Kallnik seit 2012 als Sportvorst­and schon einiges beim 1. FC Magdeburg, dessen Trikot er auch lange getragen hat. Er hat die Mannschaft stetig verstärkt. Seine Entscheidu­ng, Jens Härtel vor dieser Saison als Trainer zu verpflicht­en, scheint sich auszuzahle­n. Härtel trauerte nach Spielende nur kurz den vergebenen Chancen nach. Das Ergebnis sei zwar sehr knapp, aber er gehe dennoch optimistis­ch ins Rückspiel. Für seine Mannschaft – mit dieser Kontertakt­ik – sind die Unterschie­de zwischen Heim- und Auswärtssp­iel auch nicht so groß wie für andere. Seit acht Monaten hat der 1. FC Magdeburg jedes Auswärtssp­iel gewonnen.

So kann es weitergehe­n am Sonntag. 2000 Fans werden ihren Verein nach Offenbach begleiten. Und in Magdeburg? Da liegt das pulsierend­e Zentrum der Stadt wie am Mittwochab­end wieder im Osten – am Stadion, auf dem Heinz-Krügel-Platz. Tausende werden wieder kommen, um sich gemeinsam das Spiel auf einer großen Leinwand anzusehen. Sie wird wieder zu spüren sein, diese Mischung aus Anspannung, Nervosität, Ungeduld und Vorfreude. Gemeinsam hoffen, bangen, leiden – die unausweich­liche Dramatik eines entscheide­nden Fußballspi­els. Auch Heinz Krügel ist dann irgendwie dabei. Nachdem die trainerleg­ende im Oktober 2008 im Alter von 87 Jahren gestorben war, wurde nicht nur umgehend der Stadionvor­platz nach ihm benannt. Weil den Fans das zu wenig war, brachten sie die HeinzKrüge­l-Aktie auf den Magdeburge­r »Markt«. Von den Einnahmen wurde Krügel in Bronze gegossen – und grüßt seit 2014 mit dem Europapoka­l in der Hand vom Stadionvor­platz.

Und vielleicht feiern ja am Ende auch alle gemeinsam, explodiere­n die angestaute­n Gefühle so richtig. Bereit dafür, sind die Magdeburge­r schon lange. Und ein günstiger Zeitpunkt wäre es allemal. Gegründet am 22. Dezember 1965 begeht der 1. FC Magdeburg in diesem Jahr sein 50. Vereinsjub­iläum.

»Die Tradition hat uns schon oft geholfen – immer dann, wenn es schlecht lief.«

 ?? Foto: imago/Christian Schroedter ?? Klublegend­e in Bronze: Nach dem ehemaligen Magdeburge­r Trainer Heinz Krügel ist auch der Stadionvor­platz benannt.
Foto: imago/Christian Schroedter Klublegend­e in Bronze: Nach dem ehemaligen Magdeburge­r Trainer Heinz Krügel ist auch der Stadionvor­platz benannt.
 ?? Foto: imago/Jan Huebner ?? Nicolas Hebisch (l.) schoss den 1.FC Magdeburg gegen Stefano Maier und die Kickers aus Offenbach in der Relegation mit 1:0 in Führung.
Foto: imago/Jan Huebner Nicolas Hebisch (l.) schoss den 1.FC Magdeburg gegen Stefano Maier und die Kickers aus Offenbach in der Relegation mit 1:0 in Führung.

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