Magdeburg kann es kaum erwarten
Folge 67 der nd-Serie »Ostkurve«: In diesem Jahr wird der 1. FCM 50 Jahre alt. Der Klub und seine Fans wollen endlich wieder feiern
Die große Tradition half dem 1. FC Magdeburg schon oft. In den Aufstiegsspielen zur 3. Liga hilft sie nicht. Mit einem 1:0 fährt der FCM zum Rückspiel nach Offenbach – die ganze Stadt fiebert mit.
Die Elbe ist immer noch die selbe. Die Frage, ob sie sich verändert hat, stellt das Magdeburger Lied auch nur rhetorisch. Um zu zeigen: Die Stadt verändert sich. In den vergangenen zwei Wochen hat sich in Magdeburg eines ganz besonders verändert – die Stimmung. Es ist eine Mischung aus Anspannung, Nervosität, Ungeduld und Vorfreude. Es ist der große Fußballklub der Stadt, der die Menschen hier umtreibt wie lange nicht mehr. Der 1. FC Magdeburg hat sich als Meister der Regionalliga Nordost für die Relegationsspiele um den Aufstieg in die 3. Liga qualifiziert.
Aus Autos dröhnt die Vereinshymne oder das Magdeburger Lied. Die Stadt ist blau-weiß. Tausende tragen Schals oder Trikots des FCM. Fahnen wehen von Balkonen, hängen an Fenstern. Auch Torsten Rode hat am Mittwochabend eine in der Hand, in der anderen hält er ein Mikrofon. Der Stadionsprecher steht mitten auf dem Rasen der Magdeburger Arena. Seine Stimme zittert, als er die Aufstellung des FCM gegen die als Meister der Regionalliga Südwest angereisten Offenbacher Kickers mehr schreit als ansagt. Natürlich ist das Stadion voll. 23 139 Fans sind gekommen, 2000 davon aus über 400 Kilometern Entfernung – aus Offenbach.
Die Stimmung ist mitreißend. Das Spiel auch. Die Magdeburger spielen wie immer in dieser Saison: Ist der Gegner in Ballbesitz verteidigt eine Fünfer-Abwehrkette. Hat der FCM den Ball erobert, dann geht es schnell nach vorn – meist mit langen Bällen auf die beiden Stürmer Christian Beck und Nicolas Hebisch. Einer dieser vielen Konter führt zum 1:0. Beck bekommt auf der linken Seite den Ball, setzt sich durch, zieht in den Strafraum und bedient Hebisch, der nach 40 Minuten keine Mühe mehr hat, OFC-Torwart Daniel Endres zu überwinden. Nicht nur das Stadion bebt in diesem Moment. Alle, die eben noch auf der Magdeburger Bank gesessen hatten, stürmen auf den Platz als ob gerade das entscheidende Tor zum Aufstieg gefallen wäre.
Die große Sehnsucht nach Erfolgen lässt die Gefühle von Fans, Spielern und Klubverantwortlichen derart explodieren. Weil der 1. FC Magdeburg nach Platz drei 1990 die letzte Saison in der DDR-Oberliga ein Jahr später aber nur auf Platz zehn beendet hatte, spielt er seitdem nur dritt- oder viertklassig. Eine Insolvenz im Jahr 2002, viele Trainerwechsel und verschiedene Entscheidungsträger hemmten eine positive und kontinuierliche Ent- wicklung. Am nächsten kam der FCM dem Profifußball im Jahr 2007. Nur ein Punkt fehlte am Saisonende zum Aufstieg in der 2. Bundesliga.
Befeuert werden die Träume vom großen Fußball aber auch von der großen Vergangenheit des Vereins. Nicht Dynamo Dresden, Carl Zeiss Jena, Lok Leipzig oder der BFC Dynamo, nein der 1. FC Magdeburg gewann als einziger Mario Kallnik, Sportdirektor 1. FC Magdeburg DDR-Fußballklub einen europäischen Titel. Legendär sind die Jubelbilder von Spielern wie Jürgen Sparwasser, Manfred Zapf, Martin Hoffmann, Jürgen Pommerenke oder Wolfgang Seguin in den weißen Bademänteln nachdem sie 1974 den AC Mailand im Europapokalfinale der Pokalsieger mit 2:0 bezwungen hatten.
Ein Name steht in Magdeburg aber für sich: Heinz Krügel. »Mit ihm hatten wir jemanden, der alles umkrempelte«, erinnert sich Seguin, der selber heute noch im Sportbeirat des 1. FC Magdeburg aktiv ist. Krügel wurde 1966 Trainer in Magdeburg. Alle drei DDR-Meistertitel (1972, 1974, 1975) errangen seine Mannschaften, ebenso vier der insgesamt sieben Siege im FGDB-Pokal. 1976 ging Krügel – allerdings nicht freiwillig. Weil er »als Cheftrainer die Aufgaben des 1. FC Magdeburg bei der Entwicklung von Olympiakadern nicht in vollem Umfang erfüllt hat«, wie es im Präsidiumsbeschluss des Deutschen Turnund Sportbundes damals hieß. Blanker Hohn, wenn man bedenkt, dass die DDR-Nationalmannschaft mit der WM-Teilnahme 1974 und dem Olympiasieg 1976 ihre größten Erfolge feierte – mit einem Gerüst aus Magdeburger Spielern.
Krügel war unbequem. So missachtete er die aus Berlin vorgeschriebenen Einheitstrainingspläne. Aber der Erfolg gab ihm in der DDR nicht Recht. »Er wurde zum Objektleiter bei der BSG Motor Mitte Magdeburg degradiert«, erzählt Seguin. Dort war einer der besten Fußballtrainer des Landes fortan für die Reinigungskräfte und die Platzwarte zuständig. Eine Mannschaft durfte Krügel nicht mehr coachen.
»Die Tradition hat uns schon oft geholfen«, berichtet Mario Kallnik, »immer dann, wenn es schlecht lief.« Der Sportdirektor meint vergangene Tage der Misswirtschaft. »Jetzt stehen wir wirtschaftlich gut da«, sagt er. Der Etat in der Regionalliga beträgt 2,5 Millionen Euro, im Aufstiegsfall wären es zwei Millionen mehr. Rund 500 000 Euro hat der Klub in dieser Saison durch zwei Heimspiele im DFB-Pokal eingenommen – und hofft dadurch am Saisonende schuldenfrei zu sein.
Kallnik spricht ruhig, er ist wieder ganz bei sich. Zuvor, beim Torjubel, ist auch er wie wild auf den Platz gerannt. In der Halbzeit klopfte er jedem Spieler beim Gang in die Kabine so aufmunternd auf die Schulter, dass man fast Angst hatte, sie könnten sich verletzen. Nach dem Schlusspfiff redete er eindringlich auf jeden Spieler ein. »In solchen Fällen hilft uns die Tradition leider nicht«, sagt Kallnik und schmunzelt. Weil die Magdeburger keine ihrer unfassbar vielen eindeutigen Torchancen gegen Offenbach mehr nutzen konnte, blieb es beim 1:0. Aber ihm ist nicht bange. »Wir haben diese große Möglichkeit: Und wir wollen sie mit allem, was wir haben, packen.«
Geschafft hat Mario Kallnik seit 2012 als Sportvorstand schon einiges beim 1. FC Magdeburg, dessen Trikot er auch lange getragen hat. Er hat die Mannschaft stetig verstärkt. Seine Entscheidung, Jens Härtel vor dieser Saison als Trainer zu verpflichten, scheint sich auszuzahlen. Härtel trauerte nach Spielende nur kurz den vergebenen Chancen nach. Das Ergebnis sei zwar sehr knapp, aber er gehe dennoch optimistisch ins Rückspiel. Für seine Mannschaft – mit dieser Kontertaktik – sind die Unterschiede zwischen Heim- und Auswärtsspiel auch nicht so groß wie für andere. Seit acht Monaten hat der 1. FC Magdeburg jedes Auswärtsspiel gewonnen.
So kann es weitergehen am Sonntag. 2000 Fans werden ihren Verein nach Offenbach begleiten. Und in Magdeburg? Da liegt das pulsierende Zentrum der Stadt wie am Mittwochabend wieder im Osten – am Stadion, auf dem Heinz-Krügel-Platz. Tausende werden wieder kommen, um sich gemeinsam das Spiel auf einer großen Leinwand anzusehen. Sie wird wieder zu spüren sein, diese Mischung aus Anspannung, Nervosität, Ungeduld und Vorfreude. Gemeinsam hoffen, bangen, leiden – die unausweichliche Dramatik eines entscheidenden Fußballspiels. Auch Heinz Krügel ist dann irgendwie dabei. Nachdem die trainerlegende im Oktober 2008 im Alter von 87 Jahren gestorben war, wurde nicht nur umgehend der Stadionvorplatz nach ihm benannt. Weil den Fans das zu wenig war, brachten sie die HeinzKrügel-Aktie auf den Magdeburger »Markt«. Von den Einnahmen wurde Krügel in Bronze gegossen – und grüßt seit 2014 mit dem Europapokal in der Hand vom Stadionvorplatz.
Und vielleicht feiern ja am Ende auch alle gemeinsam, explodieren die angestauten Gefühle so richtig. Bereit dafür, sind die Magdeburger schon lange. Und ein günstiger Zeitpunkt wäre es allemal. Gegründet am 22. Dezember 1965 begeht der 1. FC Magdeburg in diesem Jahr sein 50. Vereinsjubiläum.
»Die Tradition hat uns schon oft geholfen – immer dann, wenn es schlecht lief.«