Ein Leben im Jahrhundertschritt
Er wurde als Sohn eines zum Protestantismus konvertierten jüdischen Rechtsanwalts geboren. Im Hause seiner Eltern, in dem er in behüteten Verhältnissen aufwuchs, herrschte nicht nur eine anregende kulturelle Atmosphäre. Er fand dort auch eine Vielzahl von Büchern über Wissenschaft und Philosophie, in die er sich mit Leidenschaft vertiefte.
Als er 16 Jahre alt war, verließ er vorzeitig die Schule und schrieb sich als Gasthörer an der Universität ein. Er belegte Vorlesungen in Mathematik, Geschichte, Psychologie, Physik und Philosophie. Das Abitur hoffte er danach extern ablegen zu können. Doch bei seiner ersten Prüfung scheiterte er an den Fächern Logik und Latein. Im zweiten Anlauf klappte es. Danach ging er ans Wiener Konservatorium und studierte in der Abteilung Kirchenmusik; er wollte Musiker werden. Doch nach zwei Jahren gab er diesen Plan wieder auf. Um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, war er unter anderem als Hilfsarbeiter sowie als Erzieher in verschiedenen Arbeitervierteln tätig. Darüber hinaus absolvierte er eine Lehre als Tischler.
Ermutigt hierzu hatten ihn sozialistische Freunde, die ihn für einen Gleichgesinnten hielten. Immerhin war er bereits mit 17 in die Kommunistische Partei eingetreten. Kurz darauf jedoch wurden acht seiner Kameraden bei einer Straßenschlacht von der Polizei erschossen. Als er erfuhr, dass die ganze Aktion in einen Staatsstreich münden sollte, bei dem Opfer leider unvermeidlich seien, wie einige Genossen ihm erklärten, wandte er sich vom Kommunismus ab.
Mit 23 Jahren nahm er ein Studium am Pädagogischen Institut in Wien auf und promovierte bei dem bekannten Philosophen und Sprachforscher Karl Bühler. Das Thema seiner Dissertation lautete: »Zur Methodenfrage der Denkpsychologie«. Nachdem er die Lehrbefugnis für die Fächer Mathematik und Physik erworben hatte, arbeitete er fünf Jahre als Lehrer an einer Hauptschule. Während dieser Zeit verfasste er sein wissenschaftliches Hauptwerk, in dem er sich mit dem Zustandekommen des Erkenntnisfortschritts beschäftigte. Überdies heiratete er eine Kollegin, die ihn durch alle Wirrnisse des Lebens treu begleiten sollte. Die Ehe blieb kinderlos.
Bei einer Reise nach England lernte er Erwin Schrödinger und Bertrand Russell kennen. In Kopenhagen zeigte er sich besonders von Niels Bohr beeindruckt, obwohl er dessen Interpretation der Quantenmechanik nicht teilte. Nach Wien zurückgekehrt, verfolgte er mit Sorge die politische Entwicklung in Mitteleuropa und den sich ausbreitenden Antisemitismus. Weil er den baldigen »Anschluss« Österreichs an das nazistische Deutschland befürchtete, kündigte er seine Lehrerstelle und emigrierte nach Neuseeland. Von seinen Angehörigen wurden während der Nazizeit sechzehn ermordet.
In Neuseeland lehrte er als Dozent an einem College in Christchurch und schrieb Texte, die ihn als politischen Philosophen weltweit bekannt machten. In seinen Werken distanzierte er sich von jeglicher Form der Diktatur und formulierte so bemerkenswerte Sätze wie: »Es kommt nicht darauf an, wer regiert, solange man die Regierung ohne Blutvergießen loswerden kann.« Oder: »Im Namen der Toleranz sollten wir uns das Recht vorbehalten, die Intoleranz nicht zu tolerieren.«
Nach dem Krieg wechselte er an die London School of Economics und bekleidete später eine Professur für »Logik und wissenschaftliche Methodenlehre«. Mit 47 Jahren wurde er briti- scher Staatsbürger und mit 63 von Königin Elisabeth II. zum Ritter geschlagen. Auch nach seiner Emeritierung war er ein viel gefragter Redner und Buchautor, der sich selten scheute, ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Im hohen Alter erhielt er die Goethe-Medaille der Bundesrepublik Deutschland und wurde zum Ehrenbürger seiner Heimatstadt Wien ernannt. Er starb mit 92 Jahren in London an den Folgen einer Krebserkrankung.
Die Lösung
Georg Büchner.
Einsendeschluss: 21. Juni