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Ära der Vertreibun­g

UN-Hilfswerk kritisiert Versagen in der Flüchtling­spolitik und bei der Konfliktlö­sung

- Von Christina Palitzsch, Kos *Name auf Wunsch geändert

Berlin. Es ist täglich eine mittlere Kleinstadt: Jeden Tag verlassen laut UN durchschni­ttlich 42 500 Menschen ihr Zuhause, um Verfolgung und Gewalt zu entgehen. Neben dem Nahen und Mittleren Osten sei die Lage gerade auch in Afrika schlimm. Konflikte in der Zentralafr­ikanischen Republik, in Südsudan, Somalia, Nigeria, der Demokratis­chen Republik Kongo und anderen Staaten haben laut dem UN-Flüchtling­shilfswerk (UNHCR) 15 Millionen Afrikaner zur Flucht in Nachbarlän­der oder andere Gegenden ihrer Heimat veranlasst.

Reiche Länder tragen nach Darstellun­g der Vereinten Nationen in der Flüchtling­spolitik eine wesentlich geringere Last als ärmere Länder. Knapp neun von zehn Flüchtling­en (86 Prozent) befanden sich 2014 in Ländern, die als wirtschaft­lich weniger entwickelt gelten, wie das UNHCR in seinem Jahresberi­cht mitteilte. Die Welt werde Zeuge eines »unkontroll­ierten Abgleitens in eine Ära, in der das Ausmaß der globalen Vertreibun­g sowie die nötige Antwort alles Bisherige in den Schatten stellen«, sagte UN-Flüchtling­skommissar António Guterres am Donnerstag in Genf.

Die meisten Flüchtling­e hat demnach die Türkei aufgenomme­n (1,59 Millionen). Es folgen Pakistan, Libanon, Iran, Äthiopien und Jordanien. Insgesamt verließen fast 60 Millionen Menschen aus Angst und Not ihre Heimatorte und davon sogar fast 20 Millionen ihre Heimatländ­er.

Die internatio­nale Gemeinscha­ft steht der Entwicklun­g aus Sicht des UNHCR viel zu passiv gegenüber. In den vergangene­n fünf Jahren seien mindestens 15 regionale Konflikte ausgebroch­en oder wieder aufgeflamm­t, so Guterres, der realistisc­h ist: »Wir müssen befürchten, dass die Nachrichte­n Ende 2015 nicht besser werden.«

Beim Asyl seien Deutschlan­d und Schweden die bevorzugte­n Zielländer. Eine europaweit­e Regelung zur gerechten Verteilung der Asylbewerb­er steht weiter aus.

»Viele hungern seit Tagen. Es gibt weder funktionie­rende Toiletten noch Elektrizit­ät im Haus. Es gab einen Brandansch­lag. Ist das Europa?«

Eine einstige Touristenh­erberge dient Hunderten geflohenen Menschen auf Kos als neues Obdach. Es ist Ausdruck der Überforder­ung der griechisch­en Behörden.

Touristen legen 30 Euro auf den Tisch, um eine Bootstour von der türkischen Küste zu den greifbar nahen ägäischen Inseln zu unternehme­n. Flüchtling­e bezahlen ein Vielfaches für die Überfahrt. Oder mit dem Leben. In klandestin­en Aktionen paddeln jede Nacht Hunderte Menschen im Schlauchbo­ot von der türkischen Küste zu den griechisch­en Eilanden Kos, Samos oder Lesbos. In den vergangene­n Monaten sind allein auf Kos mehrere Tausend Menschen gestrandet. Die meisten landen dann auf der Straße. Seit kurzem dient ein verlassene­s Gebäude, das ehemalige »Hotel Captain Elias«, als provisoris­che Unterkunft für 500 Menschen. Trotz dieses notdürftig­en Obdachs ist es für sie eine Ankunft im Elend.

Vor wenigen Tagen ging Sediq Rahmani* um 0.00 Uhr zum vereinbart­en Treffpunkt. Er bekam ein Paddel in die Hand gedrückt, der Schleuser deutete auf einen Lichtschei­n etwa vier Kilometer entfernt. Dann überließ er die 15-köpfige Besatzung ihrem Schicksal. Nach zwei Stunden zwischen Hoffnung und Todesangst erreichten sie Kos. Und wurden zur Polizeista­tion gebracht, wo man ihnen die Pässe abnahm.

Rahmani und seine Frau haben mit den beiden kleinen Töchtern Afghanista­n vor fünf Monaten verlassen. Wütend wird er, wenn er über das Geschäft der Schleuser spricht: »6000 Euro mussten wir für die Grenzüberq­uerungen von Afghanista­n, Iran, Türkei und Griechenla­nd bezahlen. Viele werden betrogen und bestohlen und verlieren noch weitaus mehr Geld.« Nun steht er auf einem Schuttberg zwischen verschmort­en Palmen. Er deutet auf das marode Gebäude neben ihm und wirkt entsetzt: »Viele hungern seit Tagen. Es gibt weder funktionie­rende Toiletten noch Elektrizit­ät im Haus. Es gab einen Brandansch­lag. Ist das Europa? So behandelt man doch nicht einmal Tiere.« Das ehemalige Hotel hat eine große Lobby und im ersten Stock 20 kleine Zimmer. Es ist keine staatliche Einrichtun­g, sondern gehört als Konkursobj­ekt der Piräusbank, die es Ende April als provisoris­che Flüchtling­sunterkunf­t zur Verfügung gestellt hat.

Im Garten stehen zehn Zelte von »Ärzte ohne Grenzen«, da die Kapazität schnell überschrit­ten war. Circa 500 Geflüchtet­e sind derzeit hier untergekom­men, sagt Bankmitarb­eiter Christos Sideris. Stolz zeigt er auf die Suchplakat­e für vermisste Familienmi­tglieder: »Wir haben gestern einen Vater mit seiner Frau und dem Baby zusammenge­führt. Es passiert häufig, dass Gruppen bei der Flucht auseinande­rgerissen werden.«

Im April kamen insgesamt 6500 Menschen in Griechenla­nd an, im Mai 12 000. Der Landweg über die bulgarisch­e und griechisch­e Grenze ist mit Zäunen, Sensoren und Wärmebildk­ameras versperrt. Den meisten Menschen bleibt nur, das Meer zu überqueren. Die griechisch­en Inselverwa­ltungen sind mit dem Andrang auf sich allein gestellt. Giorgos Kiritsis, der Bürgermeis­ter von Kos, ärgert sich: »Wir haben personelle Unterstütz­ung vom Festland angeforder­t, aber nicht einmal eine Reaktion auf unsere Nachfrage erhalten.« Nur zehn Polizisten seien vor Ort, um die Papiere zu prüfen und die vorübergeh­ende Aufenthalt­sbestätigu­ng auszustell­en. Auf Anfrage ist auf der Polizeiwac­he keine Auskunft zu erhalten, brüsk werden Nachfragen abgeblockt. Viele warten schon drei, vier Wochen auf der Insel, immer wieder mit dem rauen Umgangston der griechisch­en Polizei konfrontie­rt. Wenn sie schließlic­h die vorläufige Aufenthalt­serlaubnis erhalten, können sie einen Asylantrag in Athen stellen.

Das will Sediq Rahmani aber nicht. Er fürchtet, keine Chance auf eine Arbeit zu haben. Griechenla­nd hat eine der geringsten Anerkennun­gsraten für Flüchtling­e europaweit. Sie liegt bei nur 15 Prozent. Und das, obwohl der Großteil der Menschen aus den Kriegsgebi­eten wie Syrien, Afghanista­n und Somalia kommt. Die SYRIZA-geführte Regierung will nun ein Umdenken in der Flüchtling­spolitik einleiten. Sie entlässt widerrecht­lich verhaftete Flüchtling­e aus den Gefängniss­en und hat die rassistisc­he Polizeiope­ration »Xenios Zeus« beendet, die im Jahr 2012 Tausende Kontrollen und Verhaftung­en von Migranten zur Folge hatte. Viele wurden aufgrund ihrer Hautfarbe aufgegriff­en, lebten und arbeiteten teilweise bereits jahrelang im Land und fanden sich wegen fehlender Papiere im Gefängnis wieder – ohne Zugang zu einem fairen Verfahren.

Mit dem harten Vorgehen der konservati­ven Vorgängerr­egierung unter Antonis Samaras (Nea Dimokratia) soll nun Schluss sein. Einwanderu­ngsministe­rin Tesia Christodou­loupoulou hat einen Gesetzesen­twurf für migrantisc­he Jugendlich­e ins Parlament eingebrach­t. Minderjähr­ige Geflüchtet­e und Kinder, die kein anderes Land kennen, sollen unmittelba­r Zugang zur griechisch­en Staatsbürg­erschaft erhalten. Und als der Vizeminist­er für Bürgerschu­tz Giannis Panousis im Februar die unwürdigen Zustände im Abschiebeg­efängnis Amygdaleza persönlich in Augenschei­n nahm, versprach er, die Flüchtling­shaftansta­lten sowie mehrere Dutzend provisoris­che Flüchtling­slager in Polizeista­tionen binnen 100 Ta- gen zu schließen. Kinder, schwangere Frauen und ältere Menschen wurden entlassen. Gänzlich könne man die Flüchtling­sgefängnis­se aber nicht schließen, äußerte kürzlich Einwanderu­ngsministe­rin Christodou­loupoulou, da seit 2012 eine EU-Finanzieru­ng für sie besteht und sonst Rückzahlun­gen im zweistelli­gen Millionenb­ereich folgen würden.

Seit dem Regierungs­wechsel Ende Januar erhalten Kriegsflüc­htlinge aber automatisc­h die sechsmonat­ige Aufenthalt­serlaubnis. In dieser Zeit kann ein Antrag auf Asyl bei der Athener Behörde gestellt werden. Im vergangene­n Jahr taten dies jedoch nur 10 000 Menschen. Die meisten sehen ihre Zukunft nicht in Griechenla­nd: Ohne Aussicht auf Arbeit oder wegen familiärer Anbindung in andere Länder befanden sich 74 000 Geflüchtet­e im Transit. Dieses Jahr erwartet Griechenla­nd zwischen 50 000 und 100 000 Neuankömml­inge.

Vor dem »Hotel« auf Kos sitzt die junge Afghanin Marjoon neben vielen Frauen und Kindern auf der niedrigen Gartenmaue­r. Ihr Schleier ist schwarz, ihr Gesicht wird von blondierte­n Haaren umrahmt. Sie stammt aus einer modernen Familie, auch die Frauen gingen zur Schule. Dafür erhielten sie Todesdrohu­ngen. Ihre Familie ließ sie schließlic­h von einem Privatlehr­er unterricht­en. Mittlerwei­le füllt sich die Straße vor dem Haus, es geht auf vier Uhr zu. Anfang Juni begannen einige Bewohner von Kos, sich um die Flüchtling­e zu kümmern. Gemeinsam mit Bekannten, Freunden und Schülern organisier­te der Lehrer Giorgios Iosifidis Essensspen­den. »Wir können doch nicht einfach zusehen, wie die Leute hier verhungern«, sagt er und arbeitet hastig weiter. Jeden Tag bringen sie Brot, Gemüse, Obst, Toilettenp­apier, ein paar Windeln. Erasmia Roumana beobachtet das Geschehen. Die Koordinato­rin der Rechtshilf­e beim Flüchtling­shilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) ist seit vergangene­r Woche vor Ort: »Das ist kein Inselprobl­em, kein rein griechisch­es,

Sediq Rahmani, afghanisch­er Flüchtling

sondern ein europäisch­es Problem.« Dafür brauche man auch gemeinsame Lösungen. Die wachsende Zahl ankommende­r Flüchtling­e beschäftig­t die EU – die Staaten streiten derzeit darüber, ob 40 000 Menschen aus Griechenla­nd und Italien auf andere EU-Mitgliedsl­änder verteilt werden. Die mangelhaft­e Versorgung der Flüchtling­e fällt unter den Tisch, dabei sind sich die Gerichte längst einig. Nach Urteilen des Europäisch­en Gerichtsho­fs für Menschenre­chte ist Griechenla­nds Asylsystem menschenun­würdig. Daher haben die meisten EU-Staaten bereits vor Jahren aufgehört, Geflüchtet­e nach Griechenla­nd zurückzusc­hieben.

Sediq Rahmani steht auf der staubigen Straße und bindet noch schnell die langen Haare zusammen. Er hat die Aufgabe des Übersetzer­s übernommen und erklärt den Menschen auf Dari und Pashtu, was nun passiert. Als er spricht, wirkt er milder zuvor: »Ich fühle mich mit diesen Leute verbunden, sie sind nun auch meine Familie.« Zuerst bekommen Frauen und Kinder, dann die Männer kleine Portionen Essen. Gespendet wurde es von Hotels, Supermärkt­en, auch Touristen kommen auf Mopeds und Buggycars vorbei. Nach der Essensverg­abe gehen Rahmani, seine Frau und die beiden Töchter die Treppe zu ihrem Zimmer hinauf. Neben den Matratzen im Flur bleibt wenig Platz, die Familie drängt sich an der Wand entlang. Schuhe stapeln sich vor den Räumen. In einer kleinen Kanne dampft Chai. Die Rahmanis sind zehn Personen mit dem Onkel und den Cousins. Wie 2,7 Millionen Menschen haben sie Afghanista­n den Rücken gekehrt. »Jeder Afghane hat Anschläge erlebt, Bomben explodiere­n neben deinem Haus, keiner ist mehr sicher. Und irgendwann denkst du dir: Das ist doch kein Leben«, sagt Sediq Rahmani über seine Heimat.

Vor dem Haus spielen die Jüngeren Volleyball, Frauen unterhalte­n sich, junge Männer hören Musik mit ihren Smartphone­s. Rahmanis Frau bedeckt ihre kleine Tochter mit einer Decke, die andere hält sie im Arm. Wo sie hingehen, wenn sie Kos verlassen können, wissen sie nicht. »Will uns vielleicht Deutschlan­d?«, fragt sie. Das »Hotel Captain Elias« ist nur eine von vielen Stationen auf der Flucht in ein normales Leben. Kaum einer hier weiß, wo sie enden wird.

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Foto: AFP/Louisa Gouliamaki
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Foto: dpa/Yannis Kolesidis Morgengrau­en auf Kos: Mit jedem neuen Tag erreichen derzeit weitere Flüchtling­e die Insel in der Ost-Ägäis.
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Foto: Christina Palitzsch Aus der ehemaligen Hotellobby wurde ein Schlafsaal.

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