Protest gegen Austerität in Athen
Chef der Eurogruppe sieht »große Lücke« zu Positionen von SYRIZA
Berlin. In Athen haben Tausende gegen die Auflagen der Gläubiger demonstriert, darunter Regierungsmitglieder und SYRIZAPolitiker. Die Demonstration vor dem Parlamentsgebäude am Mittwochabend stand unter dem Motto: »Wir nehmen die Situation in die eigene Hand«. Etwa 7000 Menschen forderten ein »Ende der Opfer« und brachten ihre Unterstützung für den Kurs der Regierung in den Verhandlungen mit den Gläubigern zum Ausdruck.
Die gingen am Donnerstag in Brüssel bei einem Treffen der Eurogruppe weiter, das zu Redaktionsschluss noch andauerte. Zuvor hatte Eurogruppenchef Jeroen Dijsselbloem erneut Skepsis signalisiert, dass man vorankomme: »Es gibt noch wesentliche Lücken.« Dagegen äußerte sich der französische Finanzminister Michel Sapin, es gebe keine großen Unterschiede. Auch Griechenlands Finanzminister Yanis Varoufakis hoffte auf Bewegung und darauf, dass ein »kostspieliges Zerwürfnis durch einen wirksamen Konsens« ersetzt werden könne.
Griechenland soll der Frühverrentung ein Ende bereiten, fordern die Gläubiger. Obwohl sie die faktische Absenkung des Renteneintrittsalters mitzuverantworten haben.
Eine Reform des Rentensystems gehört zu den Forderungen, von denen die Gläubiger Griechenlands auf keinen Fall abrücken wollen. Geschlossen argumentieren EU und Internationaler Währungsfonds (IWF) damit, dass die griechische Altersversorgung zu teuer sei. Insbesondere die hohe Zahl an Frühverrentungen ist Brüssel und Washington ein Dorn im Auge. Die Regelungen hatten vor allem in den vergangenen Krisenjahren das durchschnittliche Renteneintrittsalter auf Werte weit unter dem EU-Durchschnitt gedrückt.
In vielen Punkten haben die Gläubiger recht. Bereits seit Jahrzehnten sind Renten in Griechenland nicht mehr allein über die Beiträge von Versicherten und deren Arbeitgebern zu finanzieren. 2009, im Jahr des Ausbruchs der Krise in Griechenland, musste der Staat 20 Milliarden Euro zuschießen, damit die etwa zwei Millionen Rentner (fast ein Fünftel der Bevölkerung) ihr Altersgeld beziehen konnten. Im vergangenen Jahr waren es noch 14 Milliarden Euro, obwohl in der Zwischenzeit Renten und Pensionen kräftig gekürzt und die Lebensarbeitszeit verlängert wurden.
Wegen jener sind Regierungschef Alexis Tsipras und sein zuständiger Minister Dimitris Stratoulis nicht bereit, weitere von den Gläubigern geforderte Einsparungen in Höhe von 1,8 Milliarden Euro jährlich bei den Altersbezügen vorzunehmen. Denn der Blick auf die nackten Zahlen zeigt nur die halbe Wahrheit dessen, wo- rum sich die Diskussion um das griechische Rentensystem dreht.
Zunächst sind die Bezüge aus den staatlichen Rentenkassen das einzige, worauf man sich in dem Mittelmeerstaat im Alter stützen kann. Nur wenige private Unternehmen zahlen eine Betriebsrente. Eine staatlich bezuschusste oder auch nur steuerbegünstigte private Altersvorsorge ist bei den Hellenen gänzlich unbekannt.
Im Zuge der Krise muss das Ruhestandsgeld in Griechenland zudem weit mehr als nur die Versorgung des Rentners selbst leisten. Bei einer Arbeitslosenquote von konstant über 25 Prozent bildet Omas oder Opas Rente für Zehntausende Familien mittlerweile die einzige Einkommensquelle. Denn Sozialhilfe gibt es in Griechenland nicht, Arbeitslosengeld wird als Festbetrag von etwa 360 Euro nur für maximal zwölf Monate gezahlt.
Mit Recht verweist man bei der Regierungspartei SYRIZA außerdem darauf, dass die Griechenland aufgezwungene Kürzungspolitik verantwortlich für einen Gutteil der Misere der Rentenkassen ist. Denn bei steigender Arbeitslosigkeit, sinkenden Löhnen und daraus resultierend sinkenden Einzahlungen käme jedes beitragsgestützte Rentensystem der Welt ins Schlingern. Zusätzlich verloren die zur Haltung ihrer Guthaben in Staatsanleihen verpflichteten Kassen beim Schuldenschnitt im März 2012 satte 25 Milliarden Euro.
Auch an der vergleichsweise hohen Zahl der Frühverrentungen sind EU und IWF nicht ganz unschuldig. Denn wenn es um die angemahnte Privatisierung staatlicher Unternehmen wie der griechischen Telekom ging, hatte man darauffolgende großzügige Frühverrentungen »überflüssiger« Arbeitskräfte billigend in Kauf genommen.
Das tatsächlich sagenhaft niedrige durchschnittliche Renteneintrittsalter von 56 Jahren im öffentlichen Dienst ist nicht nur den großzügigen Regelungen für Mütter in diesem Alter mit minderjährigen Kindern geschuldet. In die Statistik fallen auch die Angehörigen der Streitkräfte, denen ein Dienst in der Truppe im Alter von 60 nicht zugemutet wird. Für den Privatsektor schätzt die zuständige größte Krankenkasse das durchschnittliche Renteneintrittsalter für 2016 dagegen bereits auf 60,6 Jahre. Weiterer Spielraum für eine Be- schneidung der Renten und Pensionen ist vor diesem Hintergrund schwer vorstellbar.
Spitzenrenten von über 2000 Euro, wie sie einst mancher Eisenbahner bekam, gehören längst der Vergangenheit an. Fast 45 Prozent der Altersbezüge liegen heute unterhalb der Armutsgrenze von 665 Euro, 60 Prozent der Pensionäre beziehen weniger als 700 Euro brutto im Monat. Darunter fallen auch alle verrenteten Landwirte, denen selbst bei 35 Versicherungsjahren nur 350 Euro Rente im Monat zustehen.
Dennoch fordern die Gläubiger Einschränkungen bei den Frühverrentungen und höhere Strafabschläge für jedes Jahr vorzeitigen Ruhestands. Wer mit über 50 den Job verliert, kann in einem Land mit hoher Arbeitslosigkeit kaum damit rechnen, einen neuen zu finden. Die Frührente ist in Griechenland dann der einzige Schutz vor dem totalen Abstieg in die Armut. Wer das nicht will, muss als Alternative ein Sozialsystem aufbauen. Das aber würde den Staat mindestens ebenso viel kosten wie ein Auffangen im Rentennetz.
Dürfen die Griechen mit 56 Jahren in Rente gehen? In den Verhandlungen zwischen der Regierung in Athen und Brüssel gehen manche Behauptungen und Forderungen am Kern der Auseinandersetzung vorbei. Das meinen auch viele derer, die wieder und wieder gegen den Austeritätskurs auf die Straße gehen.