Prinzip Wegschmeißen
Was von Wolfgang Herrndorfs Bildern übrig blieb.
Es hat eine eigentümliche Bewandtnis mit dem literarischen Werk des Schriftstellers Wolfgang Herrndorf, der, hätte er sich nicht im Sommer vor zwei Jahren nach langer, schwerer Krankheit das Leben genommen, vor einigen Tagen 50 Jahre alt geworden wäre. Seine letzten, teils erst nach seinem Tod publizierten Romane haben Preise erhalten, wurden von den Feuilletons enthusiastisch gelobt und brechen Verkaufsrekorde. Herrndorfs traurigkomischer Roman »Tschick« wurde zur Schullektüre befördert und wird heute in Klassen gelesen, denen früher Lessings »Nathan der Weise« oder Kafkas »Verwandlung« vorgesetzt wurde. Doch von Herrndorfs erstem Roman und seinem ersten Erzählungsband, entstanden vor seiner schweren Tumorerkrankung und erschienen 2002 und 2007, wollte lange Zeit kaum einer etwas wissen. Die komische, sprachlich so genaue Erzählprosa hatte es schwer hierzulande, auf einem Markt, der entweder triviale Schmonzetten verlangt oder bleischwere tiefgründelnde Rührstücke.
Ähnlich dürfte es mit den überwiegend in den 90er Jahren entstandenen Bildern und Gemälden Herrndorfs gewesen sein, der in seinem ersten Leben Maler und Zeichner war, und zwar ein grandioser, wenn auch einer, der sich nie dem Kunstbetrieb angedient hat. Sie entsprachen nicht dem Geschmack eines überwiegend das Schwerblütige und esoterisch-dunkel Raunende goutierenden Kunstmarktes, wurden nur von Liebhabern komischer Kunst zur Kenntnis genommen: Es waren »elaborierte Gemälde satirischen und blasphemischen Inhaltes«, wie Herrndorfs Freund Holm Friebe einmal schrieb, gedruckt als Titelbilder der Satirezeitschrift »Titanic« oder als Titelillustrationen auf Buchumschlägen des liebevoll die Tradition der komischen Literatur pflegenden Haffmans-Verlags. »In den 80er-, 90er-Jahren, da wollte so was eigentlich gar niemand sehen«, sagte der Kurator Jens Kloppmann dem Deutschlandfunk. Nur bei Haffmans und den Satirikern, da wusste man anscheinend: Hier hat man ein ebenso einmaliges wie vielseitiges Talent entdeckt.
Doch irgendwann war es dann so weit: Der Mann ließ von einem Tag auf den anderen das Malen, das er als »sowohl körperlich als auch seelisch anstrengend« empfand, ganz bleiben (»Acht Stunden malen, und du hast wirklich einen Bandscheibenschaden«) und widmete sich fortan dem Schreiben.
Wie viel Wert Herrndorf selbst zu Lebzeiten den Kapriolen und Eitelkeiten des Kunst- und Literaturbetriebs zugemessen hat, kann man erahnen, wenn man liest, was der ehemalige »Titanic«-Chefredakteur Oli- ver Maria Schmitt von einer Begegnung mit Herrndorf im Jahr 2007 erzählt, als dieser das Malen längst aufgegeben hatte. Schmitt war seinerzeit, wie er sagt, »ziemlich lose« mit Herrndorf befreundet und traf ihn während einer Party in Berlin zufällig auf dem Balkon, wo er allein mit einer Bierflasche in der Hand saß und »verloren« wirkte. »Bald fragte ich Herrndorf dann auch, ob er denn eigentlich noch irgendetwas male oder zeichne. Er schüttelte den kahlen Kopf. Meine Phrase, dass dies bei seinem ungeheuren Können ja geradezu ein Vergehen an der Kunst sei, quittierte er gekonnt mit ›Feuilletonistenscheiße‹.«
Die etwa 80 bis 100 meist kleinformatigen Bilder, die nun an den Wänden der drei kleinen Räume im Literaturhaus Berlin hängen, zeigen eine enorme künstlerische Vielfalt. Einige sind Gemälde (»Öl auf Sperrholz«), die den Eindruck erwecken, sie seien von Caspar David Friedrich, einem Spätimpressionisten oder einem der holländischen alten Meister in feinsäuberlichster Ausführung hergestellt, von van Eyck oder Vermeer – wenn da nicht jeweils das verstörende Sujet wäre, das meist ein gegenwärtiges ist, das so gar nicht zu dem traditionellen Malstil passen will: Statt der eher schmächtigen »Briefleserin am offenen Fenster«, die wir von einem berühmten Gemälde Vermeers aus dem Jahr 1657 kennen, steht da plötzlich der Pfälzer Koloss Helmut Kohl am offenen Fenster. Und auf einem Bild, das aussieht, als stamme es von dem berühmten Renaissancemaler Pietro Perugino, wird nicht der Oberkörper des an eine Säule gefesselten Heiligen Sebastian von Pfeilen durchbohrt, sondern der massive Leib eines andächtig zum Himmel blickenden und hilflos ein Hinterbein anwinkelnden Hausschweins. Auch ein ganz und gar im kubistischen Stil Picassos gemaltes und mit dessen Signatur versehenes Porträt ist zu sehen. Nur: Es zeigt Adolf Hitler. Bei anderen ausgestellten Werken handelt es sich um mit schnellem Strich gezeichnete Witzbilder, die den Betrachter, was Stil und Technik angeht, sofort an Comic-Strips und Karikaturen der Neuen Frankfurter Schule, an F. K. Waechter und F.W. Bernstein denken lassen.
Doch haben all die kleinen Gemälde, Aquarelle, Feder- und Pinselzeichnungen – abgesehen davon, dass sie vom selben Künstler stammen – mindestens zwei Dinge gemeinsam: Erkennbar wurde hier Exaktheit im noch so kleinsten Detail angestrebt. »Da ist jede Linie, wo sie hingehört, und gar nichts egal.« (O. M. Schmitt) Herrndorf war, im Schreiben wie im Malen, bekennender Perfektionist. »Das Hauptarbeitsprinzip muss das Wegschmeißen sein«, sagte er einmal. Und oft findet man einen galligen, bitteren Humor in seinen Bildern: Manchmal nur an der Peripherie oder ganz versteckt, manchmal springt er dem Betrachter ins Gesicht. Den zu seiner Zeit gefürchteten und berüchtigten ehemaligen Fußballreporter Heribert Faßbender (»Es steht im Augenblick 1:1, aber es hätte auch umgekehrt lauten können«) sehen wir etwa in den berühmten Posen, in denen Hitlers Hausfotograf Heinrich Hoffmann einst den Führer ablichtete: exaltiert gestikulierend, mit irrem, entrücktem Blick das Schicksal oder sonst irgendetwas außerhalb des Bildes Befindliches beschwörend.
Manchmal ist Herrndorf, der arm war und viele Jahre in einer kärglichen, dunklen Einzimmerwohnung in Berlin-Mitte wohnte und, nach allem, was man weiß, ein geradezu asketisches Leben führte, frühmorgens aufgestanden, »um das Morgenrot zu sehen, wenn es eines gibt«. In seinem Tagebuch »Arbeit und Struktur« schreibt er immer wieder vom Tageslicht, von einfallenden Lichtstrahlen, von den Farben, die das Wetter hat. Moderner abstrakter Malerei konnte er wenig abgewinnen.
Es gibt ein Selbstbildnis des Malers, Zeichners und Schriftstellers aus dem Jahr 1988, eines der größeren Bilder der Ausstellung. Es zeigt ihn am Fenster sitzend, bis in die kleinsten Faltenwürfe der Jeanshose hinein mit einer beängstigenden Präzision und handwerklichen Akribie gemalt. Dass es noch existiert, ist wohl ein Zufall und einer Laune des Schicksals zu verdanken. Einen nicht geringen Teil seines Werkes, der »eigentlich nach Marbach gehört hätte«, so Friebe, hat Herrndorf vernichtet, »in der Badewanne eingeweicht und zerrissen«. Er hielt es für unzulänglich. Auf einem in »Arbeit und Struktur« abgedruckten Foto ist die Badewanne zu sehen, in der aufgeweichte Papiere, Skizzenblöcke und Dokumentenmappen schwimmen.
Als der todkranke Herrndorf, der jahrzehntelang am Existenzminimum lebte, am Ende seines Lebens zum ersten mal Geld hat und die Möglichkeit, sich eine schönere und hellere Wohnung zu leisten, schreibt er in sein Internet-Tagebuch: »Alles, was man durch dieses Fenster sieht, ist groß wie großes Kino. Ein Liter Tee, ein Buch, blauer Himmel, Sonne.« Man wünscht sich, er hätte das noch gemalt. Er hätte dann ja dem Bild den Text beigeben können, den er schon als Schriftzug auf zwei anderen seiner noch erhaltenen Naturbildminiaturen verwendete: »Macht einem manchmal Angst: Die Natur«.
»Wolfgang Herrndorf: Bilder«. Literaturhaus Berlin. Bis 13. August. Di - Fr: 14 bis 19 Uhr, Sa / So: 11 bis 19 Uhr. Eintritt: 5 / 3 €.