Junge Länder, alte Sorgen
Eine Ostdeutsche im Kanzleramt, ein Ostdeutscher im Bellevue: Die Deutsche Einheit ist dennoch unvollendet
Die sogenannten neuen Länder sind inzwischen ein Vierteljahrhundert alt. Doch so unterschiedlich die Probleme in Schwerin, Erfurt, Magdeburg und Dresden auch sind – es gibt viele Gemeinsamkeiten.
Als sich der Ex-Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, kürzlich zu Wort meldete, haben sich gewiss viele Bundesbürger verwundert die Augen gerieben. Im Zuge der laufenden Verhandlungen zwischen Bund und Ländern über den Länderfinanzausgleich, angesichts des auslaufenden Solidarpakts Ost nach 2019 und der dann auch greifenden Schuldenbremse riet er der Bundesregierung zum ganz großen Befreiungsschlag: Irgendwann müsse sie sich so oder so des schwierigen Themas Länderfusionen annehmen.
Das dürfte insbesondere im Osten des einig Vaterlandes für mancherlei Irritationen gesorgt haben. Denn es ist ja gerade mal 25 Jahre her, dass die Ostdeutschen schon einmal derlei Zusammenschlüsse erlebten. Und wer nach der Wende bereits zu den älteren Jahrgängen gehörte, hatte ganz und gar ein echtes Déjà-vu. Nach dem Zweiten Weltkrieg bestanden schließlich in der sowjeti- schen Besatzungszone schon einmal fünf Länder, die im Zuge der II. Parteikonferenz der SED im Juli 1952 – als der Aufbau des Sozialismus und das segensreiche Wirken des demokratischen Zentralismus beschlossen wurden – in 14 Bezirke aufgeteilt worden waren.
Am 22. Juli 1990 wurde von der letzten Volkskammer der DDR auch auf verwaltungsrechtlichem Terrain wieder die »Rolle rückwärts« beschlossen; auf dem Gebiet der ehemaligen DDR sollten mit dem »Län- dereinführungsgesetz« – kompatibel mit der föderalen Struktur der Bundesrepublik – die sogenannten fünf neuen Länder entstehen.
Immerhin mit einer großartigen Perspektive. Schließlich hatte Bundeskanzler Helmut Kohl bereits Tage zuvor bei der Einführung der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion am 1. Juli in einer Fernseh- ansprache den baldigen Neubundesbürgern das Blaue vom Himmel versprochen: »Durch eine gemeinsame Anstrengung wird es uns gelingen, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Sachsen und Thüringen schon bald wieder in blühende Landschaften zu verwandeln, in denen sich zu leben und zu arbeiten lohnt.« Weder der immerhin noch acht Jahre regierende CDU-Regierungschef noch die ehemaligen DDR-Bürger sind diesen Satz jemals wieder losgeworden. Endlich, vor fünf Jahren zum 20. Jahrestag der Deutschen Einheit, gestand Kohl höchstselbst ein: »Sicher geht alles langsamer, als wir es uns damals vorgestellt haben.«
Kunststück! Da hatte die Entwicklung im Osten längst einen ganz anderen Verlauf genommen. Von einer Einheit aus der Portokasse, die der Kanzler prophezeit hatte, wollte niemand mehr etwas wissen. Die neu hinzu gekommenen Bundesländer hatten sich dank der Treuhandpolitik zu echten Sorgenkindern entwickelt. Die großen Betriebe waren von der Landkarte verschwunden, die Arbeitslosigkeit schoss in die Höhe, Millionen Menschen parkten über Jahre in eigens aus dem Boden gestampften Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, manche blieben ganz auf der Strecke. Und: Viele waren es mit den Jahren leid geworden, auf das große Aufblühen daheim zu warten – und längst ausgezogen, im Westen ihr Glück zu suchen.
Zurück blieben fünf Bundesländer, die mit überbordenden Kosten und ausgedünnter Bevölkerung zu kämpfen hatten, Wohnungsleerstand beseitigen mussten, Innenstädte sanierten, kleine Unternehmen aufpäppelten, Beschäftigungsprojekte ins Leben riefen – und trotz immenser Transferzahlungen auf keinen grünen Zweig kamen. Das liegt auch an der kleinteiligen Unternehmensstruktur, an fehlender industrieller Forschung und Entwicklung und an geringer Eigenkapitalausstattung der Betriebe. Auch wenn sich in den letzten Jahren viel Neues und Sehenswertes in Stadtzentren und Gewerbegebieten überall in ostdeutschen Landen entwickelt hat und nicht wenige ehemalige »Auswanderer« den Weg wieder nach Hause fanden – der vielbeschworene Aufbau Ost ist längst noch nicht abgeschlossen.
Anfang Juni haben die Regierungschefs der längst nicht mehr ganz neuen Länder und Berlins in einem Brief an Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble auf einen angemessenen Ausgleich für geringere Steuereinnahmen gepocht. Auch in den Jahren nach 2019 werde die Steuerkraft ihrer Länder nur in etwa bei der Hälfte des bundesdeutschen Durchschnitts liegen, haben sie ihm vorgerechnet.
Solche Fakten werden freilich bei den deutsch-deutschen Jubiläumsfeierlichkeiten alle fünf Jahre gern ausgeblendet. Längst redet kaum noch ein Bundespolitiker davon, dass sich im vergangenen Vierteljahrhundert nicht ein einziges Dax-Unternehmen im Osten angesiedelt hat. Und auch nur bei einer Anhörung der Linkspartei war unlängst zu erfahren, dass die 100 größten ostdeutschen Unternehmen zusammen nur die Hälfte der Bilanzsumme von Daimler erreichen. Mit den Jahren immer seltener thematisiert werden die bei aller Verbesserung am Arbeitsmarkt immer noch weit über Westniveau liegenden Arbeitslosenquoten in den neuen Ländern, die bei etwa 80 Prozent des Westwertes rangierenden ostdeutschen Löhne und Gehälter und die immer noch nicht stattgefundene Rentenangleichung – wiewohl nun schon bei sieben Bundestagswahlen von allen Wahlkämpfern energisch im Munde geführt. Vielen scheint offenbar die deutsche Einheit vollendet, seit eine Ostdeutsche ins Kanzleramt und ein Ostdeutscher ins Schloss Bellevue eingezogen sind. Ein mächtiger Trugschluss!
Die neu hinzu gekommenen Bundesländer hatten sich Dank der Treuhandpolitik zu echten Sorgenkindern entwickelt.