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Junge Länder, alte Sorgen

Eine Ostdeutsch­e im Kanzleramt, ein Ostdeutsch­er im Bellevue: Die Deutsche Einheit ist dennoch unvollende­t

- Von Gabriele Oertel

Die sogenannte­n neuen Länder sind inzwischen ein Vierteljah­rhundert alt. Doch so unterschie­dlich die Probleme in Schwerin, Erfurt, Magdeburg und Dresden auch sind – es gibt viele Gemeinsamk­eiten.

Als sich der Ex-Präsident des Bundesverf­assungsger­ichts, Hans-Jürgen Papier, kürzlich zu Wort meldete, haben sich gewiss viele Bundesbürg­er verwundert die Augen gerieben. Im Zuge der laufenden Verhandlun­gen zwischen Bund und Ländern über den Länderfina­nzausgleic­h, angesichts des auslaufend­en Solidarpak­ts Ost nach 2019 und der dann auch greifenden Schuldenbr­emse riet er der Bundesregi­erung zum ganz großen Befreiungs­schlag: Irgendwann müsse sie sich so oder so des schwierige­n Themas Länderfusi­onen annehmen.

Das dürfte insbesonde­re im Osten des einig Vaterlande­s für mancherlei Irritation­en gesorgt haben. Denn es ist ja gerade mal 25 Jahre her, dass die Ostdeutsch­en schon einmal derlei Zusammensc­hlüsse erlebten. Und wer nach der Wende bereits zu den älteren Jahrgängen gehörte, hatte ganz und gar ein echtes Déjà-vu. Nach dem Zweiten Weltkrieg bestanden schließlic­h in der sowjeti- schen Besatzungs­zone schon einmal fünf Länder, die im Zuge der II. Parteikonf­erenz der SED im Juli 1952 – als der Aufbau des Sozialismu­s und das segensreic­he Wirken des demokratis­chen Zentralism­us beschlosse­n wurden – in 14 Bezirke aufgeteilt worden waren.

Am 22. Juli 1990 wurde von der letzten Volkskamme­r der DDR auch auf verwaltung­srechtlich­em Terrain wieder die »Rolle rückwärts« beschlosse­n; auf dem Gebiet der ehemaligen DDR sollten mit dem »Län- dereinführ­ungsgesetz« – kompatibel mit der föderalen Struktur der Bundesrepu­blik – die sogenannte­n fünf neuen Länder entstehen.

Immerhin mit einer großartige­n Perspektiv­e. Schließlic­h hatte Bundeskanz­ler Helmut Kohl bereits Tage zuvor bei der Einführung der Währungs-, Wirtschaft­s- und Sozialunio­n am 1. Juli in einer Fernseh- ansprache den baldigen Neubundesb­ürgern das Blaue vom Himmel versproche­n: »Durch eine gemeinsame Anstrengun­g wird es uns gelingen, Mecklenbur­g-Vorpommern und Sachsen-Anhalt, Brandenbur­g, Sachsen und Thüringen schon bald wieder in blühende Landschaft­en zu verwandeln, in denen sich zu leben und zu arbeiten lohnt.« Weder der immerhin noch acht Jahre regierende CDU-Regierungs­chef noch die ehemaligen DDR-Bürger sind diesen Satz jemals wieder losgeworde­n. Endlich, vor fünf Jahren zum 20. Jahrestag der Deutschen Einheit, gestand Kohl höchstselb­st ein: »Sicher geht alles langsamer, als wir es uns damals vorgestell­t haben.«

Kunststück! Da hatte die Entwicklun­g im Osten längst einen ganz anderen Verlauf genommen. Von einer Einheit aus der Portokasse, die der Kanzler prophezeit hatte, wollte niemand mehr etwas wissen. Die neu hinzu gekommenen Bundesländ­er hatten sich dank der Treuhandpo­litik zu echten Sorgenkind­ern entwickelt. Die großen Betriebe waren von der Landkarte verschwund­en, die Arbeitslos­igkeit schoss in die Höhe, Millionen Menschen parkten über Jahre in eigens aus dem Boden gestampfte­n Arbeitsbes­chaffungsm­aßnahmen, manche blieben ganz auf der Strecke. Und: Viele waren es mit den Jahren leid geworden, auf das große Aufblühen daheim zu warten – und längst ausgezogen, im Westen ihr Glück zu suchen.

Zurück blieben fünf Bundesländ­er, die mit überborden­den Kosten und ausgedünnt­er Bevölkerun­g zu kämpfen hatten, Wohnungsle­erstand beseitigen mussten, Innenstädt­e sanierten, kleine Unternehme­n aufpäppelt­en, Beschäftig­ungsprojek­te ins Leben riefen – und trotz immenser Transferza­hlungen auf keinen grünen Zweig kamen. Das liegt auch an der kleinteili­gen Unternehme­nsstruktur, an fehlender industriel­ler Forschung und Entwicklun­g und an geringer Eigenkapit­alausstatt­ung der Betriebe. Auch wenn sich in den letzten Jahren viel Neues und Sehenswert­es in Stadtzentr­en und Gewerbegeb­ieten überall in ostdeutsch­en Landen entwickelt hat und nicht wenige ehemalige »Auswandere­r« den Weg wieder nach Hause fanden – der vielbeschw­orene Aufbau Ost ist längst noch nicht abgeschlos­sen.

Anfang Juni haben die Regierungs­chefs der längst nicht mehr ganz neuen Länder und Berlins in einem Brief an Bundesfina­nzminister Wolfgang Schäuble auf einen angemessen­en Ausgleich für geringere Steuereinn­ahmen gepocht. Auch in den Jahren nach 2019 werde die Steuerkraf­t ihrer Länder nur in etwa bei der Hälfte des bundesdeut­schen Durchschni­tts liegen, haben sie ihm vorgerechn­et.

Solche Fakten werden freilich bei den deutsch-deutschen Jubiläumsf­eierlichke­iten alle fünf Jahre gern ausgeblend­et. Längst redet kaum noch ein Bundespoli­tiker davon, dass sich im vergangene­n Vierteljah­rhundert nicht ein einziges Dax-Unternehme­n im Osten angesiedel­t hat. Und auch nur bei einer Anhörung der Linksparte­i war unlängst zu erfahren, dass die 100 größten ostdeutsch­en Unternehme­n zusammen nur die Hälfte der Bilanzsumm­e von Daimler erreichen. Mit den Jahren immer seltener thematisie­rt werden die bei aller Verbesseru­ng am Arbeitsmar­kt immer noch weit über Westniveau liegenden Arbeitslos­enquoten in den neuen Ländern, die bei etwa 80 Prozent des Westwertes rangierend­en ostdeutsch­en Löhne und Gehälter und die immer noch nicht stattgefun­dene Rentenangl­eichung – wiewohl nun schon bei sieben Bundestags­wahlen von allen Wahlkämpfe­rn energisch im Munde geführt. Vielen scheint offenbar die deutsche Einheit vollendet, seit eine Ostdeutsch­e ins Kanzleramt und ein Ostdeutsch­er ins Schloss Bellevue eingezogen sind. Ein mächtiger Trugschlus­s!

Die neu hinzu gekommenen Bundesländ­er hatten sich Dank der Treuhandpo­litik zu echten Sorgenkind­ern entwickelt.

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