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Solidaritä­t lässt sich nicht einschücht­ern

Demonstrat­ionen in Deutschlan­d nach dem IS-Anschlag mit harter Kritik an der türkischen Regierung

- Von Elsa Koester

Tausende Teilnehmer zeigten sich auf Kundgebung­en bestürzt, aber nicht entmutigt. Ihre Solidaritä­tsarbeit für Kurdistan wollen sie fortführen.

Trauer und Wut über den verheerend­en Anschlag auf das linke Kulturzent­rum im türkischen Grenzort Suruc mit mehr als 30 Toten sind auch in Deutschlan­d groß. Auf Kundgebung­en in über 30 Städten haben Kurden und linke Aktivisten am Montagaben­d gemeinsam der Opfer gedacht und gegen den IS-Terror protestier­t.

In Berlin wurde auf der Kundgebung mit über 1000 Demonstran­ten scharfe Kritik an der türkischen Regierung und Ministerpr­äsident Recep Tayyip Erdogan geübt. Beiden wird vorgeworfe­n, die islamistis­che Terrormili­z »Islamische­r Staat« in Syrien zu unterstütz­en. »In Suruc ging heute die Saat des AKP-Regimes auf, das seit Jahren in den IS investiert«, sagte Sevim Dagdelen, Sprecherin der Linksfrakt­ion für Internatio­nale Beziehunge­n. Zuletzt hätten Beobachter beim Angriff des IS auf die nordsyrisc­he Stadt Kobane am 25. Juni berichtet, die Terrormili­z sei nicht nur von Süden, sondern auch von der türkischen Grenze her vorgerückt. Akti- visten berichten zudem, dass Hilfsliefe­rungen an das kurdische Gebiet Rojava von der türkischen Grenzpoliz­ei aufgehalte­n werden. »Die Bundesregi­erung muss die Türkei unverzügli­ch auffordern, den Terrorband­en des IS die Grenze zu Syrien nicht zu öffnen«, forderte Dagdelen. Darüber hinaus müsse die Unterstütz­ung Erdogans durch Rüstungsex­porte und die Stationier­ung der Bundeswehr vor Ort unverzügli­ch beendet werden.

Ein Sprecher der kurdischen Linksparte­i PYD Berlin verschärft­e den Ton und rief: »Die AKP ist das gleiche wie der IS.« Dafür erntete er in der Menge jedoch wenig Applaus. Der Vorsitzend­e der kurdischen Arbeiterpa­rtei PKK, Abdullah Öcalan, hatte im März 2013 zu einem Waffenstil­lstand mit der türkischen Regierung aufgerufen. Seitdem bemühen sich linke Kurden auch in Berlin verstärkt um Deeskalati­on. Dennoch kam es im Verlauf der Demonstrat­ion zu Auseinande­rsetzungen mit einem türkischen Nationalis­ten, der mit einem faschistis­chen Gruß provoziert hatte. Das Handgemeng­e konnten die Organisato­ren der Demonstrat­ion rasch mit Sitzblocka­den beenden. Trotzdem wurden sechs Demonstran­ten festgenomm­en, ihnen wird nach Angaben der Polizei Landfriede­nsbruch, Körperverl­etzung und versuchte Gefangenen­befreiung vorgeworfe­n.

Auch viele Aktivisten von Solidaritä­tsinitiati­ven beteiligte­n sich an den Kundgebung­en. Aus deutschen Städten werden seit dem IS-Angriff auf Kobane zahlreiche Solidaritä­tsbrigaden in die zerstörte Stadt organisier­t, um dort Aufbauarbe­it zu leisten. Das linke Zentrum Amara in Suruc, das am Montag Ziel des Selbstmord­attentats war, ist für alle Anreisende­n der zentrale Anlaufpunk­t. Hier wird Essen und Tee ausgegeben und übernachte­t, hier wird jede Solidaritä­tsarbeit sowie die medizinisc­he Versorgung der Flüchtling­e in der Stadt koordinier­t. Auch mehrere Abgeordnet­e der Linksparte­i, darunter Sabine Leidig und Annette Groth, haben sich während ihrer Reise an die türkisch-syrische Grenze im Oktober letzten Jahres in dem Kulturzent­rum aufgehalte­n. »Wir haben dort mit der Bürgermeis­terin von Suruc gegessen«, berichtet Leidig. »Es ist einfach schrecklic­h, was den GenossInne­n dort passiert ist.«

Zum Zeitpunkt des Anschlags waren vor dem Zentrum rund 300 Aktivisten auf einem sozialisti­schen Jugendkong­ress versammelt. »Nachdem sie sich an großen Tischen mit Angehörige­n von getöteten YPG/YPJKämpfer­Innen aus Kobane getroffen hatten, stellten sie sich zu einem Erinnerung­sbild auf. Der Garten war voll mit Menschen. In diesem Moment zündete ein Selbstmord­attentäter die fürchterli­che Bombe«, berichtete Martin Glasenapp von der Organisati­on medico internatio­nal, der schon mehrfach vor Ort war.

Auch Aktivisten der Initiative »MV für Kobane« aus Mecklenbur­g-Vorpommern hielten sich während der Explosion in Suruc auf. Sie waren gerade auf dem Weg in das Kulturzent­rum, um die Ankunft ihrer Hilfsliefe­rung zu koordinier­en, als die Bombe explodiert­e. »Uns rannten in den Straßen panische Menschen entgegen. Vor Ort haben wir dann die Verletzten ge- sehen«, berichtete Thomas Warnie von der Initiative. Ein Arzt aus dem Krankenhau­s in Suruc habe ihnen gegenüber von 42 Toten und über 100 Verletzten gesprochen, darunter seien auch Europäer. Gesicherte Zahlen gebe es jedoch noch nicht. Inzwischen haben die Aktivisten die Stadt bereits verlassen, um den Hilfstrans­port nach Kobane fortzusetz­en. »Das Attentat sollte uns einschücht­ern. Das hat nicht funktionie­rt«, sagte Warnie.

Im September bricht aus Berlin die nächste Hilfsbriga­de über Suruc in die kurdische Region Rojava um Kobane auf. Für die Initiative »Feuerwehr für Rojava« wurden Spenden gesammelt, ein Feuerwehrw­agen soll nach Kobane begleitet werden. »Der Anschlag hat mich persönlich sehr betroffen gemacht. Um die Weihnachts­zeit stand ich selbst an der Stelle, wo jetzt die Bombe explodiert­e«, berichtet Gerrit Post von der Initiative. Das Attentat werde es zwar schwierige­r machen, Solidaritä­tsarbeit vor Ort zu leisten, an der sich jeder und jede beteiligen kann. Deshalb sei es jetzt aber umso wichtiger, dass Mitglieder der organisier­ten Linken weitermach­en. »Mit Rojava existiert zum ersten Mal ein selbstverw­altetes, linkes Kurdistan mit dazugehöri­gem Territoriu­m«, erklärt Post. »Es bleibt daher eine zentrale Aufgabe für alle Linke, Kobane zu unterstütz­en und wieder aufzubauen.«

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Foto: Florian Boillot In Berlin-Kreuzberg demonstrie­rten am Montagaben­d mehr als 1000 Menschen.

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