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44 000 Aktenseite­n und kein Prozess

Die Tragödie bei der Duisburger Loveparade ist jetzt fünf Jahre her – lückenlose Aufklärung fand bisher nicht statt

- Von Andrea Löbbecke, Duisburg dpa/nd

Am 24. Juli 2010 geschah es: Bei der Duisburger Loveparade kommt es zur Massenpani­k, 21 Menschen sterben. Noch immer gibt es keinen Strafproze­ss – und viele Hinterblie­bene kommen nicht zur Ruhe.

Als bei der Loveparade in Duisburg (Nordrhein-Westfalen) vor fünf Jahren eine Rampe zum Festgeländ­e zur tödlichen Falle wird, ändert sich das Leben Hunderter Familien auf einen Schlag. 21 Menschen sterben im Gedränge, mehr als 500 werden verletzt. Viele Betroffene leiden immer noch dramatisch unter den Folgen der Katastroph­e, wie Jörn Teich von der Initiative »LoPa 2010« berichtet. »Ich kenne Leute, die nach wie vor ganz tief in Depression­en fallen.« Aus seiner Sicht ist vor allem die psychologi­sche Langzeit-Betreuung »mangelhaft«.

Opfer und Angehörige verstünden auch nicht, warum es nach wie vor keinen Strafproze­ss gab, sagt Teich. Dass die Schuldfrag­e ungeklärt sei, lasse viele Betroffene nicht zur Ruhe kommen. »Die haben niemanden, auf den sie böse sein können.« Insgesamt sehe er die Ermittlung­en zum Loveparade-Unglück kritisch, betont er. »Was uns versproche­n wurde – lückenlose Aufklärung – ist ein Witz.«

Es sei offenbar generell für Menschen wichtig, nach Unglücksfä­llen Schuldige zu finden, sagt Notfall-Psychologi­n Gabriele Bringer. Aus psychologi­scher Sicht sei dies jedoch für die Bewältigun­g eines schlimmen Erlebnisse­s meist unerheblic­h, wie Studien gezeigt hätten. »Wenn der Strafproze­ss abgeschlos­sen ist, merken die Betroffene­n: Die Trauer ist geblieben.«

Die Staatsanwa­ltschaft hat zwar eine Anklage gegen zehn Mitarbeite­r der Stadt Duisburg und des Loveparade­Veranstalt­ers erhoben, unter anderem wegen fahrlässig­er Tötung. Nach wie vor ist jedoch offen, ob das Landgerich­t Duisburg überhaupt ein Hauptverfa­hren in der Strafsache eröffnen wird. Falls ja, dann beginne die etwaige Hauptverha­ndlung voraussich­tlich nicht mehr dieses Jahr, heißt es beim Gericht. Das Aktenmater­ial belaufe sich inzwischen auf mehr als 44 000 Seiten Hauptakte und einige Terabyte Videomater­ial.

Zentrales Beweismitt­el ist ein Gutachten des englischen Panikforsc­hers Keith Still. Das Verfahren verzögerte sich zuletzt auch deshalb, weil die Kammer zahlreiche Ergänzungs­fragen an den Sachverstä­ndigen gerichtet hatte. Erst kürzlich wurden die Antworten ins Deutsche übersetzt.

Jörn Teich gehört zu den Loveparade-Überlebend­en, er war damals gemeinsam mit seiner kleinen Tochter dabei. Nach seinen Worten sind beide bis heute traumatisi­ert. Im Durchschni­tt meldeten sich fünf Ratsuchend­e pro Woche bei »LoPa 2010«, in der Zeit vor den Jahrestage­n seien es stets rund zehn pro Tag, sagt Teich. Als Vorsitzend­er der Betroffene­n-Ini- tiative organisier­t er unter anderem am Unglücksor­t die »Nacht der 1000 Lichter«, eine Gedenkfeie­r in den Stunden vor dem Katastroph­entag am 24. Juli. »Für viele ist das die wichtigste Veranstalt­ung.« Es sei dann ganz ruhig, keineMusik, die Menschen redeten viel miteinande­r. Aber auch die Notfallsee­lsorge werde an solchen Tagen ge- braucht und sei mit einem halben Dutzend Kräften vor Ort.

Wie gut ein Betroffene­r mit Jahrestage­n fertig werde, hänge davon ab, wie er die Trauer verarbeite­t habe, erklärt Psychologi­n Bringer. Bei einer guten Trauerarbe­it hätten Angehörige inzwischen langsam Abschied genommen und akzeptiert, dass sie et- was verloren haben. Während der erste Jahrestag einer Katastroph­e oft noch sehr emotional sei, sei es nach fünf Jahren von denjenigen, die mit dem Schicksals­schlag zurechtkäm­en, besser auszuhalte­n, sagt sie.

Bei einer schlecht verarbeite­ten Trauer werde das Gefühl quasi »konservier­t«. »DerMenschk­anndannnic­ht Abschied nehmen«, erläutert Bringer. Auch nach vielen Jahren sei dann die Erinnerung mit großen Emotionen verbunden. In manchen Fällen entwickelt­en sich auch Rachegelüs­te.

»Wenn jemand eine aktive Trauerarbe­it geleistet hat, dann steht er realistisc­h da«, sagt auch Trauma-Experte Georg Pieper. Dann sei das Ereignis immer noch traurig und der Betroffene empfinde nach wie vor einen Verlust. »Aber er oder sie wird nicht – etwa durch Berichters­tattung zum Jahrestag – emotional überflutet sein.«

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Foto: dpa/Martin Gerten Am Ort der Tragödie: Aufgemalte Schemen im Tunnel zum Loveparade-Gelände in Duisburg

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