»Bettler sind wir alle«
Notizen aus Venedig
Der Wind fährt Karussell. Eben noch kam er von vorn, da ist Norden, da sind die Berge, da ist Kühle, jetzt kommt er schon wieder aus Süden, da ist nichts als heiße feuchte Luft. Auf meinem Balkon sitze ich seit Tagen wie in einer ab und zu von kalter Zugluft durchwehten Waschküche. Noch schlimmer ist es nur, wenn plötzlich gar kein Wind mehr weht und man nur noch mühsam wie durch Watte die faulige Kanalluft atmet.
Es ist dann, als ob jemand einen Topf Milch über der Stadt ausgegossen hätte, die langsam aber unaufhaltsam in jede Fuge des Mauerwerks, in jede Pore der Haupt einsickert. Ja, man kann bei solchem Wetter leicht verrückt werden, die Venezianer wissen das, machen Fenster und Türen zu, stellen ihre Klimaanlagen auf Frost und werden in dicken Pullovern uralt. Aber ich?
Ich will nicht ignorant sein und mir darum etwas von der Biennale anschauen. Ich blättere im Programm und erfahre, dass die Idee einer modernen Kunstausstellung 1893 im Café Florian geboren wurde. Das dachte ich mir, vermutlich nach einer Gondelfahrt! Heute wird hier allerdings gar nichts mehr geboren, höchstens tot, so wie das Milliarden teure Moses-Projekt, Dutzende Schleusen, die, wenn es darauf an kommt (Hochwasser!), das Meer abriegeln sollen. Ich glaube ja nicht, dass sich das Meer in Schleusen sperren lässt. Aber ich bin, besonders bei dieser Luft, wohl tatsächlich ein Ignorant.
Die geborenen Venezianer haben eine Unzahl von Namen für alle möglichen Arten Wind, ich kenne gerade einmal den Schirokko. Aber der ist wohl eher wie ein Heißluftgebläse, das Wüstenwind über die Lagune jagt.
Wegen Konzeptkunst, Installationen aller Art, verlasse ich meinen Balkon jedenfalls nicht. Vor hundert Jahren vielleicht, aber heute doch nicht mehr! Peggy Guggenheim, die Galeristin, die von New York nach Venedig zog und einen Palazzo am Canal Grande zum Museum machte, ging mit ihren geliebten Lhasa-Terriern, von denen sie immer zwei hatte, jeden Tag ins Restaurant Paradiso, wo jeder der Hunde eine Schüssel Eiscreme bekam. Hoffentlich mochten die vielen Terrier, die sie in ihrem Leben hatte, auch alle Eiscreme! Aber die Attraktion der Eiscreme essenden Hunde war zu groß, um darauf Rücksicht zu nehmen, dass mancher von ihnen vielleicht ein PansenGericht vorgezogen hätte. Das scheint mir auch das Problem der Biennale zu sein. Man fragt nicht, ob jemand mal wieder ein Kunstwerk sehen will, dessen Hervorbringung Meisterschaft erforderte – es gibt wie immer nur Eiscreme.
Das klingt jetzt aber wirklich ignorant. Doch ich bin in guter Gesellschaft. Denn in der evangelisch-lutherischen Gemeinde Venedigs am Campo Ss. Apostoli wird ein »unabhängiger« (also nicht eingeladener) Beitrag zur 56. Biennale gezeigt, die dieses Jahr unter dem Motto steht »All the World’s Future«. Ich finde, dazu passt die Ausstellung »Ernst Barlach – Der Zweifler. Gestalten einer besseren Zukunft«, die in Kooperation mit der Ernst-Barlach-Gesellschaft in Hamburg entstand.
Barlach in Venedig! Das ist so neu nicht, denn schon 1930 war er mit der Plastik »Das Grauen« auf der Biennale vertreten. Dieses Jahr nun so-