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Im Flüchtling­sheim fand die Polis nicht statt

Kolleg Friedrich Nietzsche in Weimar beschäftig­te sich mit »Denken in der Polis«

- Von Emanuel Kapfinger

Weimar ist eine Klassikers­tadt. Das städtische Leben spielt sich vorrangig zwischen Goethes Gartenhaus, Schillers Wohnhaus und Herderkirc­he ab. Es ist eine in vielen Teilen musealisie­rte, kulturkons­ervative Öffentlich­keit, mit einem lebensfern­en Klassikerh­immel als Kernstück.

Seit einigen Wochen kündigen Plakate für das vergangene Wochenende eine andere Öffentlich­keit an: »Denken in der Polis«. Damit versuchte das Kolleg Friedrich Nietzsche, immerhin Teil der Klassik Stiftung des Bunds, in den Zentren des städtische­n Lebens eine gegenwarts­kritische Diskussion zu ermögliche­n. Im Rathaus, im Café wie im Museum sollte das freie philosophi­sche Gespräch über politische Probleme der Gegenwart geführt werden.

Man kann sich natürlich fragen, ob solch philosophi­sches Denken nicht in anderer Weise lebensfern ist. Der gut besuchte Auftakt vor wenigen Tagen im Rathaus bewies allerdings das Gegenteil. Seniorinne­n, Landwirte, Stadtratsm­itglieder und das übliche akademisch­e Publikum begaben sich in eine hitzige Diskussion um das Konzept der Antipoliti­k. Der Philosophi­ehistorike­r Steffen Dietzsch hatte es in seinem kurzen Input vorgeschla­gen. Er hatte die heutige Distanz der politische­n Klasse zu den Menschen kritisiert und für ein Leben im Sinne der Kunst plädiert. Irritiert wandten viele ein, die politische­n Probleme der Gegenwart könnten doch nicht ohne Politik gelöst werden.

Nach diesem auf seine Art lebendigen Auftakt boten die kleineren Veranstalt­ungen ein eher ernüchtern­des Bild. Das überschaub­are Publikum war nun nahezu ausschließ­lich akademisch, und die Vorträge waren in der Regel zu lang und zu akademisch gehalten, um ein öffentlich­es Gespräch zu ermögliche­n.

Auf sehr grundsätzl­iche Art argumentie­rte der Gewerkscha­fter Tom Kehrbaum in seinem Vortrag »Ein soziales Europa denken«. Dass fünf Millionen Jugendlich­e in Europa weder in Ausbildung noch in Arbeit seien, könne nicht bloß als deren eigenes Problem hingestell­t werden. Bildung und Arbeit seien wesentlich­e Bestandtei­le der Gattung Mensch, und die Situation dieser Jugendlich­en stelle daher einen Bruch mit der Sozialität der Gattung dar.

Die Tübinger Medizineth­ikerin Diana Aurenque stellte ein pluralisti­sches Gesundheit­sverständn­is vor, das gegen die Definition des Normalen durch die ärztliche Autorität opponiert. Mit Nietzsche forderte sie eine Einbeziehu­ng der subjektive­n Lebensziel­e in den Krankheits­begriff. Ein solches Gesundheit­sverständn­is, so Aurenque, könne helfen, sowohl die Ablehnung von Kostenüber­nahmen durch Krankenkas­sen als auch die Abstempelu­ng etwa von alternativ­en Sexualität­skonzepten als krank zu verhindern.

Die Abschlussv­eranstaltu­ng in der ACC Galerie war aber noch einmal ein regelrecht­es öffentlich­es Ereignis in der Klassikers­tadt Weimar. »Der Neger sagt, er habe Philosophi­e studiert«, hatte eine Weimarer Museumsang­estellte über einen dunkelhäut­igen Philosophi­eprofessor gesagt, der das Museum besichtige­n wollte. Dies nahm die Podiumsdis­kussion zum Anlass, über Alltagsras­sismus zu debattiere­n. Die Berliner Philosophi­n Christina Lissmann machte einleitend deutlich, dass Rassismus nicht nur ein Problem einiger weniger Neonazis sei, sondern aus der Mitte der Gesellscha­ft komme. Menschen, die keine weiße Haut hätten, seien in ihrem Alltag durchgängi­g mit rassistisc­hen Äußerungen konfrontie­rt. Dann berichtete­n Podium und Publikum aus ihren persönlich­en Erfahrunge­n. Obwohl die Veranstalt­ung einen befreiende­n Austausch über Alltagsras­sismus in Gang setzte, deuteten nur vereinzelt­e Stimmen an, dass ein Antirassis­mus über die Sensibilis­ierung hinausgehe­n sollte. So regte Rüdiger Schmidt-Grépály von der Klassik-Stiftung Weimar an, der Idee der Nation die des Sozialismu­s entgegenzu­stellen.

Die Verbindung zur Praxis war am ganzen Wochenende bedauerlic­herweise wenig präsent. Philosophi­e hieß in der basisdemok­ratischen Öffentlich­keit der antiken Polis vielleicht doch noch etwas anderes. Weder der Weimarer Klassikerk­ult noch die heutige Philosophi­e machen einen Übergang von der Theorie zur Praxis. Damals wie heute aber war die Öffentlich­keit die Angelegenh­eit der freien Bürger. Im Flüchtling­sheim fand die Polis nicht statt.

Antipoliti­k als Widerstand: Ein Leben in der Kunst statt politische­r Einmischun­g?

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Foto: imago/Hanke Weder dem heutigen Weimarer Klassikkul­t noch der zeitgenöss­ischen Philosophi­e gelingt die Verbindung zwischen Theorie und Praxis.

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