EU-Mehrheit klärt Flüchtlingsverteilung
Krisentreffen der Innenminister in Brüssel beschließt Umsiedlung von 120 000 Vertriebenen
Auch am Dienstag wurde in der EU heftig gefeilscht. Am späten Nachmittag kam die Nachricht: Die Mehrheit der Innenminister einigte sich auf die Verteilung von 120 000 Flüchtlingen.
Berlin. Bevor die EU-Innenminister am Dienstagnachmittag in Brüssel erneut zu einem Krisentreffen zusammenkamen, hatten die Botschafter der 28 Mitgliedsstaaten vergeblich nach einem Kompromiss für die geplante Umverteilung von weiteren 120 000 Flüchtlingen gesucht. Offen blieb dabei, welchen Ländern wie geholfen werden soll. Die EU-Kommission hatte vor allem die stark belasteten EU-Staaten Griechenland, Italien und Ungarn im Auge.
Doch am späten Nachmittag kam dann die Nachricht, dass die Innenminister auf ihrem Sondertreffen die Umverteilung »durch eine große Mehrheit von Mit- gliedsstaaten« beschlossen hätten, wie die luxemburgische EU-Ratspräsidentschaft per Twitter verbreitete. Das war durchaus überraschend, hatte sich doch gegen die Umsiedlung von Flüchtlingen aus stark belasteten Ankunftsländern bis zuletzt vor allem eine Reihe osteuropäischer Staaten gewehrt. Wie EU-Diplomaten am Rande des Treffens in Brüssel mitteilten, fiel die Entscheidung gegen die Stimmen von vier Mitgliedern – Ungarn, Rumänien, Tschechien und die Slowakei votierten gegen den Kompromiss.
Damit trafen die Ressortchefs – nächste Überraschung – auch eine Entscheidung, die nicht wie üblich im Konsens aller Staaten zustande kam, sondern lediglich mit der sogenannten qualifizierten Mehrheit. Die ergibt sich, wenn mindestens 260 Stimmen der insgesamt 352 auf alle EU-Staaten verteilten Stimmen erreicht werden. Zuvor hatten Brüsseler Diplomaten noch erklärt, dass es in solch einer wichtigen Frage einen Konsens geben sollte.
Details zu der Einigung blieben zunächst offen. Also auch die von Brüssel erwogene Möglichkeit, sich von der Flüchtlingsaufnahme »freizukaufen«, oder die Frage von »Strafzahlungen« für jene Länder, die keine Flüchtlinge aufnehmen wollen.
Wenn die Staats- und Regierungschefs am Mittwoch beraten, beschließen sie im Unterschied zu den Fachministern keine Rechtstexte, sie geben den politischen Rahmen vor. Wie dringend nachhaltige Lösungen sind, zeigt auch der am Dienstag in Paris vorgelegte Report der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Die OECD rechnet weiter mit umfassender internationaler Migration. So geben in Nigeria 44 Prozent der über 15Jährigen an, dauerhaft auswandern zu wollen. In Albanien sind es 39, in Senegal 37, in Syrien 31 Prozent. Fast überall wird mindestens ein EU-Land als bevorzugtes Ziel genannt.
Die Welthungerhilfe forderte mehr politische Anstrengungen bei der Bekämpfung von Fluchtursachen. Zentral seien dabei diplomatische Anstrengungen für Friedenslösungen in Ländern wie Syrien, die Stabilisierung der Wirtschaft in Krisenstaaten, weniger Waffenexporte und eine bessere Klimapolitik. Nur die Schaffung konkreter Perspektiven in der Heimat halte die Menschen.
»Die große Flüchtlingszahl ist überwältigend. Deshalb geht es um Integration, Integration, Integration.«
OECD-Chef Ángel Gurría
Hinter den erschütternden Bildern, die wir täglich sehen, steckt ein gemeinsames Muster: Alle Flüchtlinge kommen aus gescheiterten Staaten, die auf dem Weg zur Entwicklung irgendwo in Massenarmut, sozialer Zerrüttung und Perspektivlosigkeit steckengeblieben sind. Und das ist nicht erstaunlich, denn Entwicklung ist ein äußerst schwieriger Prozess.
Schauen wir uns das Problem zunächst grundsätzlich an: Der aktuelle Stand der Technik erlaubt bei einer 40-Stunden-Woche einen Lebensstandard von 100. Das Entwicklungsland Y startet bei einer 60Stunden-Woche, mit der es einen Lebensstandard von 20 erreicht. Der Grundbedarf an Ernährung und Wohnen ist knapp gedeckt.
Doch Entwicklung bedeutet erstens Übernahme der modernen Produktionstechnologie. Zweitens muss ein Land dann auch entsprechend mehr konsumieren. Das setzt voraus, dass die Kaufkraft der Massen in etwa mit der Produktivität steigt. Dieser Gleichschritt von Produktivität und Massenkaufkraft stellt sich aber keineswegs durch die Marktkräfte automatisch ein, sondern muss erkämpft und ständig erhalten werden.
Diese Erkenntnis ist zumindest für Wirtschaftshistoriker nicht neu. Sie kommen alle zu ähnlichen Schlüssen: Wirtschaftliches Gedeihen setzt ein ungefähres Gleichgewicht der Kräfte, Vertrauenskapital, Rechtsstaat und »inklusive Institutionen« voraus. Dieser Begriff stammt von Daron Acemoglu und James Robinson. Sie verstehen darunter Einrichtungen wie Sozialversicherungen, progressive Steuern oder Arbeitnehmerschutz. Das Gegenteil davon sind extraktive (bzw. exklusive oder ausbeuterische) Institutionen wie etwa Streikverbote oder übertriebene Patent- und Markenrechte.
Wir früh entwickelte Westler verdanken unseren Wohlstand der Tatsache, dass sich das Industrieproletariat organisiert, die »inklusiven Institutionen« erstritten und damit die Marktwirtschaft »sozialisiert« hat. Gleichzeitig wurden damit nach und nach auch Absatzmärkte für Der Schweizer Wirtschaftswissenschaftler Werner Vontobel Textilien, größere, beheizte Wohnungen, Autos, Unterhaltungselektronik, Tourismus usw. geschaffen.
Für die Länder, die jetzt erst aufholen sollten, ist die Ausgangslage aus zwei Gründen viel schwieriger. Erstens werden ihre neuen Industrien von den Platzherren weggefegt. Zwar sieht es so aus, als würden Industriejobs in Entwicklungsländer ausgelagert. Doch das stimmt nicht. Wie der Entwicklungsökonom Dani Rodrik in seiner Studie »premature deindustrialisation in the developing world« festgestellt hat, rationalisieren die früh entwickelten Länder zwar Industriejobs weg, bauen aber ihre Position als Nettoexporteure weiter aus. Die Entwicklungsländer werden deindustrialisiert, noch bevor sie eine namhafte eigene Industrie aufbauen konnten. Rodrik geht es aber auch um Institutionen: Ohne Industrialisierung und die für sie typischen Großunternehmen sei es für die »Nicht-Eliten« der Entwicklungsländer unmöglich, eine Klassensolidarität zu entwickeln und sich in Parteien und Gewerkschaften zu organisieren und eine demokratische Kultur zu entwickeln. Stattdessen dominieren ethnische und religiöse Gegensätze, was der Elite erlaubt, ihre Interessen nach dem Prinzip des Teilens und Herrschens durchzusetzen.
Der zweite Punkt aber ist noch wichtiger: Die heutigen Entwicklungsländer sind auf ein straff organisiertes globales Finanzsystem angewiesen. Dessen Türsteher, der Internationale Währungsfonds (IWF), sorgt dafür, dass Kredite nur vergeben werden, wenn das Land zuvor die Möglichkeit eingeräumt hat, dass die Investoren notfalls ihre Rechte durchsetzen können – sie müssen Patentrechte sichern, internationale Schiedsgerichte akzeptieren, Arbeitnehmerrechte abschaffen und letztlich die ganzen Ressourcen des Landes in den Dienst der (devisenbringenden) Exportindustrie stellen.
Man kann es auch so formulieren: Das Finanzkapital bzw. der IWF zwingen die Länder, »inklusive Institutionen« abzubauen oder gar nicht erst entstehen zu lassen und statt dessen extraktive oder ausbeuterische Institutionen zu errichten. Dass dies nicht funktionieren kann, hätte man schon aus der Geschichte erkennen können. Jetzt können wir bloß noch darauf hoffen, dass uns wenigstens das Elend der Flüchtlinge die Augen öffnet.