Keine Überforderung in Sicht
Eine Studie der OECD gibt einen Ausblick, wie Zuwanderung gelingen kann
Mit einer Migrationsstudie bemüht die OECD sich um eine nüchterne Betrachtung der Flüchtlingsbewegungen. Sie machten in diesem Jahr gerade einmal 0,1 Prozent der EUBevölkerung aus.
Die Bundesregierung hat angesichts der hohen Zahl von Asylbewerbern, die das Land erreichen, auf Krisenmanagement geschaltet. Ein Treffen jagt das nächste, um eine bessere Koordination auf allen Ebenen – von den Kommunen bis zur EU-Außengrenze – zu erreichen. Inmitten dieses hektischen Treibens stellte die Organisation für Entwicklung und Zusammenarbeit (OECD) am Dienstag ihren diesjährigen Migrationsausblick in Berlin vor. Anhand von statistischem Material analysiert sie darin vor allem die jüngsten Wanderungsbewegungen nach Europa.
Während die Berichterstattung in den letzten Wochen immer wieder neue Höchststände an Flüchtlingszahlen präsentierte – im August sprach die Bundesregierung noch von rund 800 000 Flüchtlingen in diesem Jahr, mittlerweile haben mehrere Spitzenpolitiker die Zahl bereits nach oben korrigiert; Konservative sprechen gar von einer »Völkerwanderung« – bemühte die OECD sich in ihrer Studie um Sachlichkeit.
Thomas Liebig, Chefökonom der OECD, sprach zwar angesichts der hohen Zuzugszahlen von vielen ungelösten Herausforderungen, von einer »Flüchtlingskrise«. Aber er hält dem entgegen, dass die Zuwanderung durch Asylbewerber in diesem Jahr wahrscheinlich lediglich 0,1 Prozent der Bevölkerung in den EULändern betrage. »Das sollte eigentlich keine Überforderung darstellen«, sagte Liebig – wenngleich er anmerkte, dass die Zuwanderung sich derzeit auf wenige Staaten wie Schweden, Deutschland und Österreich konzentriere. Der Ökonom verwies auf andere Länder, wie die Schweiz, die über Jahre eine viel größere Zuwanderung hatten und dies meistern konnten.
Wichtig sei Liebig zufolge aber, schnell zu handeln und die notwendigen Schritte einzuleiten, um Flüchtlingen eine Perspektive zu eröffnen. Von den rund 800 000 Asyl- bewerbern haben laut OECD etwa 300 000 bis 350 000 in Deutschland eine dauerhafte Perspektive. »Mit 600 Stunden Sprachunterricht wird eine Integration nicht erreicht«, sagte Liebig, wenngleich der Erwerb der Sprache eine zentrale Anforderung an die Zuwanderer darstelle. Studien hätten ergeben, dass komplexere Integrationskurse für Flüchtlinge in Skandinavien in der Regel zwei bis drei Jahre dauerten, wobei Niedrigqualifizierte deutlich länger bräuchten. »Solche Maßnahmen kosten zwar viel«, erklärte Liebig, »langfristig zahlen sich die Investitionen aber aus.«
Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles äußerte unlängst ihre Befürchtung, dass die Arbeitslosenzahlen im kommenden Jahr ansteigen könnten, wenn Flüchtlinge erstmals zu Tausenden auf den Arbeitsmarkt drängten. Diese Annahme der SPDPolitikerin untermauerte die OECD. In der Vergangenheit hat es der Studie zufolge in europäischen Ländern im Durchschnitt fünf bis sechs Jahre gedauert, bis die Mehrheit der Flüchtlinge in Beschäftigung war. Integration braucht demnach also einen langen Atem.
Sinn mache es, erklärte Liebig, die Zuwanderer dort anzusiedeln, wo es Beschäftigung gebe und nicht dort, wo der Wohnraum günstig sei. Wie nämlich eine Untersuchung in Schweden ergeben habe, seien Migranten in abgelegenen Gegenden auch nach 15 oder 20 Jahren noch deutlich schlechter gestellt. Häufiger seien sie ohne Job, und wenn sie arbeiteten, dann meistens zu niedrigen Löhnen.
Die OECD gibt mit ihrem Bericht wertvolle Hinweise, wie aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt werden kann. Gleichsam ist sie ein Gegenpol zur Berichterstattung, die Asylgesuche zunehmend als Belastung für die Aufnahmeländer darstellt.
So legt die Studie überzeugend dar, dass Migration längst alltäglich geworden ist. Alleine im vergangenen Jahr gab es in Deutschland rund eine halbe Million Zuwanderer aus anderen EU-Ländern. »Das ist eine unscheinbare Entwicklung, die auch in diesem Jahr anhalten wird«, sagte Liebig. Im Zuge der Arbeitnehmerfreizügigkeit der EU kommen also dauerhaft weitaus mehr Menschen nach Deutschland als Flüchtlinge.