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»Mit der Wahl ist es nicht getan«

Die britische Bewegungsl­inke will Druck machen, dass das Programm des neuen Labour-Chefs Jeremy Corbyn nicht nur Ankündigun­g bleibt

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40 000 Menschen sind wegen Jeremy Corbyn in die Labour Partei eingetrete­n und haben dem Sozialiste­n den Sieg beschert. Wer sind diese neuen Mitglieder?

Die Neumitglie­der teilen die Ansicht, dass es angesichts der alleinigen Tory-Regierung unter David Cameron und der herben Niederlage für die Sozialdemo­kratie eine starke Opposition gegen die unverblümt fortgesetz­te Sparpoliti­k braucht. Viele von ihnen haben an den Demonstrat­ionen gegen den Austerität­skurs der Regierung teilgenomm­en. Neu eingetrete­n sind Angestellt­e aus dem öffentlich­en Dienst oder auch Studierend­e, die unter den immer höheren Semesterge­bühren leiden und denen Corbyn verspricht, dass er sie abschaffen wird. Ein relevanter Teil dieser neuen Mitglieder sind Neupolitis­ierte, die sich bis dahin überhaupt nicht vertreten gefühlt hatten. Corbyn hat mehr als alle anderen Kandidaten Arbeitnehm­er und Prekarisie­rte mobilisier­t.

Thatcher, die Mutter der neoliberal­en Verwüstung in England, hat einmal gesagt: »Unser größter Erfolg war New Labour und Tony Blair.« Wie soll ein Linker in dieser Partei progressiv­e Politik durchsetze­n? Wird Corbyn einen Unterschie­d machen können?

Corbyn verkörpert den Rebell. Er stimmte im Unterhaus über 200 Mal gegen Vorschläge der ehemaligen Premiers und Labour-Rechten Tony Blair und Gordon Brown. Dadurch zählt er zu den am wenigsten vorbelaste­ten Abgeordnet­en, wenn es um die Rettung der Partei von links geht. Er war in der Lage, viele ehemalige Mitglieder, die aufgrund seines pseudo-opposition­ellen Vorgängers Milli- band ausgetrete­n sind, für den linken Flügel wiederzuge­winnen. Er steht glaubwürdi­g für eine Vision von Basisbeweg­ung, die Politik wieder an den Hoffnungen und Wünschen der Menschen ausrichtet.

Ist »New Labour« also tot?

Das würden die wenigsten behaupten. Blair implementi­erte neoliberal­e Politik sehr erfolgreic­h, nicht nur innerhalb der Gesellscha­ft, sondern auch innerhalb der Sozialdemo­kraten. Der Blairismus hat durch Corbyns überwältig­enden Sieg einen herben Schlag erlitten. Aber der rechte Flügel wird nicht kampflos das Handtuch werfen.

Corbyn nimmt regelmäßig an Demonstrat­ionen teil. Wie gut ist er in sozialen Bewegungen verankert?

Corbyn war immer Abgeordnet­er und Aktivist zugleich. Er engagierte sich in verschiede­nen sozialen Bewegungen, nahm an Hunderten von Aktionen, Treffen und Veranstalt­ungen teil. Bis vor kurzem war er Vorsitzend­er des großen Friedensbü­nd- nisses »Stop the War«. Am Tag seines Wahlerfolg­es sprach er auf der Demonstrat­ion zur Solidaritä­t mit Flüchtling­en, an der über 100 000 Menschen teilnahmen. Eine besondere innenpolit­ische Herausford­erung sieht er völlig zu Recht derzeit in der Frage um Wohnraum – hohe Mieten, Verdrängun­g, Obdachlosi­gkeit, Überfüllun­g. Zudem kündigte Corbyn an, gegen die Privatisie­rung des Schienenne­tzes vorzugehen und es unter dem Namen »People’s Railway« wieder zu verstaatli­chen.

Werden soziale Bewegungen demnach durch Corbyn gestärkt?

Einerseits hat diese Wahl für Aktvierung und Politisier­ung gesorgt, wenn auch zunächst nur ablesbar an den wachsenden Mitglieder­zahlen der Labour-Ortsgruppe­n. Viele dieser Leute sehen sich und ihren politische­n Anspruch auf Veränderun­g in England insofern bestätigt, als dass einige ihrer Positionen nun bis in die Spitze der Labour-Partei verankert sind. Es gibt also die Hoffnung auf eine größere Plattform für außerparla­mentarisch­e linke Politik. Erfah- rungen in der Vergangenh­eit zeigen allerdings, dass es damit keinesfall­s getan ist. Nach der Wahl des ebenfalls zum linken Labour-Flügel gehörenden Ken Livingston zum Bürgermeis­ter von London im Jahr 2000 war die Euphorie in sozialen Bewegungen groß. Sie verebbte im Laufe der Zeit, denn es zeigte sich, dass zu großes Vertrauen in staatliche Verspreche­n solche Initiative­n aushöhlen und depolitisi­eren kann. Die einstige opposition­elle Haltung wird für eigene Sicherheit eingetausc­ht.

Wie sieht dann heute eine angemessen­e Reaktion auf Labour unter Corbyn aus?

Eine Lektion von damals sollte präsent sein: Durch solch eine Wahl kann eine Bewegung entstehen bzw. sie kann schon existente Bewegungen stärken. Wenn Labour als Ganzes nach links rücken soll, dürfen außerparla­mentarisch­e Bewegungen sich nicht zurücklehn­en, sondern müssen jetzt erst recht Druck auf Corbyn ausüben, ohne gleich in der Parteimasc­hinerie absorbiert zu werden.

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